Debatte um getötete Tiere:Millionen Schweine sind tot, es lebe die Giraffe!

Giraffe Marius Zoo Kopenhagen

Eines der letzten Bilder des noch lebenden Giraffenjungen Marius.

(Foto: dpa)

Es gibt Onlineaufrufe und Demonstrationen, wenn eine einzelne Giraffe in einem dänischen Zoo getötet wird. Über die Millionen Tiere, die unter unwürdigsten Bedingungen gehalten und geschlachtet werden, spricht niemand. Verlogen. Oder?

Von Felicitas Kock

Der gewaltsame Tod einer Giraffe in Dänemark sorgt international für Aufregung. Zahlreiche Menschen hatten gegen die Pläne des Kopenhagener Zoos protestiert, dem Leben des anderthalb Jahre alten Marius mit einem Bolzenschuss ein Ende zu bereiten. Tausende waren in eine Facebook-Gruppe gegen die Tötung des Giraffenjungen eingetreten, eine Online-Petition wurde gestartet, wütende Demonstranten zogen vor die Tore des Tierparks. Doch nichts half - Marius wurde erschossen, vor den Augen der Zoobesucher zerlegt und an die Löwen verfüttert. Und jetzt trifft es womöglich noch einen weiteren Giraffenmann.

Zoodirektor Bengt Holst verteidigt sein Vorgehen; Marius sei nicht grundlos getötet worden, sondern weil er den Tieren in seiner Herde und anderen europäischen Zoos genetisch zu ähnlich war - hätte er sich vermehrt, wäre das Inzucht gewesen. "Die Menschen missverstehen, was wir getan haben. Wir bewahren durch diesen Schritt die künftige Generation der Giraffen", sagt der Zoo-Chef. Doch reicht das als Erklärung? Nicht für alle: In einer Online-Petition fordern mittlerweile mehr als 60.000 Menschen die Schließung des Tierparks. Holst und seine Mitarbeiter haben Morddrohungen erhalten. Zwar müssen die Kritiker der Tötung mittlerweile selbst viel Kritik und Häme einstecken, doch dass das traurige Ende der Giraffe Marius die Gemüter erregt, ist unbestritten.

Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage, ob wir in einer komplett verlogenen Gesellschaft leben. Da werden jährlich 50 Millionen männliche Eintagesküken in der deutschen Legehennen-Zucht unmittelbar nach der Geburt getötet. Da brechen Mastschweine zusammen, weil sie so schnell wachsen, dass sie ihr eigenes Gewicht nicht mehr tragen können. Da werden Hühner, Schweine, Rinder unter Bedingungen gehalten, dass sie bei möglichst niedrigem Kostenaufwand gerade so überleben - und die Öffentlichkeit schert sich nicht darum. Empörtes Geschrei erhebt sich erst, wenn eine Giraffe in einem dänischen Zoo ihr Leben lassen muss.

Zunächst hat dieses Missverhältnis sicher mit der Macht des Einzelereignisses zu tun. So sterben beispielsweise deutlich mehr Menschen im Straßenverkehr als bei Flugzeugabstürzen, aber nur bei Letzteren wird wirklich berichtet, weshalb einige Menschen Angst vorm Fliegen, die wenigsten aber Angst vorm Fahrradfahren haben. Auch die Tötung eines gesunden Zootieres ist ein Ereignis, das im Tierparkalltag bisweilen vorkommt, das für den Außenstehenden aber recht außergewöhnlich klingt - zumindest außergewöhnlicher, als dass ein paar Schweine ein leidvolles Leben führen, geschlachtet und zu Schnitzeln verarbeitet werden. Doch das ist nicht die einzige Erklärung.

Unser Verhältnis zu Tieren und Gewalt

"Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder beobachtet, dass bestimmte Formen von Gewalt an Tieren in regelmäßigen Abständen medial skandalisiert werden und es zu einem moralischen Aufschrei kommt", sagt Julia Gutjahr von der Group for Society & Animals Studies (GSA), einer Gruppe von Soziologen an der Uni Hamburg. Das sage aber weniger über die Beziehung der Menschen zu dem entsprechenden Tier aus, als über das Verhältnis zu Tieren und zu Gewalt insgesamt.

Denn Gewalt - vor allem an Tieren in der Fleischindustrie - spielt sich immer mehr im Hintergrund ab. Gutjahr und ihre Kolleginnen nutzen dafür den Begriff der "institutionalisierten Gewalt". "Das heißt, dass die Gewalt abseits der Öffentlichkeit geschieht, dass es einen arbeitsteiligen Produktionsprozess gibt, in dem Tiere zu Nummern und Produktionseinheiten werden", erklärt die Soziologin. Gewalt gegen Tiere werde im Bereich der Nahrungsmittelproduktion systematisch vollzogen, rechtlich gebilligt und durch wirtschaftliche Interessen gestützt. Das führe dazu, dass sie legitim und "weitestgehend normal" erscheine.

Wer Marius heißt, bekommt Aufmerksamkeit

Die US-Psychologin Melanie Joy spricht in einem Interview gar von einem "Mechanismus des Leugnens", der schon damit beginne, "dass wir die gesamte Tierproduktion, die Schlachtfabriken und so weiter, so gut wie nie zu sehen bekommen". Das Einzige, was der Durchschnittsbürger von der Massentierhaltung mitbekommt, ist das Fleisch, das er am Ende im Kühlregal findet. Und der Zusammenhang zwischen beidem - zwischen der Gewalt am Tier und dem Schnitzel in der Pfanne - lässt sich leicht verdrängen.

"Mit der einen Hand essen wir einen Burger, während wir mit der anderen unseren Hund streicheln", sagt Joy. Mit anderen Worten: Während die Empathie für Nutztiere nur schwach ausgeprägt ist, verhält es sich bei Haustieren ganz anders. Katzen und Hunde werden mitunter als Familienmitglieder und Freunde wahrgenommen. Ihre Behandlung orientiert sich zu einem großen Teil an den Normen, die wir auch für unsere Mitmenschen gelten lassen. "Gewalt wird bei Haustieren als Tierquälerei skandalisiert und auch strafrechtlich sanktioniert", sagt Gutjahr.

Nun ist Giraffe Marius zwar kein Haustier, dennoch habe er "als exotisches Zootier Sympathien auf sich gezogen", sagt die Soziologin. Er wurde als Individuum wahrgenommen, trug einen Namen. Er war noch ein Tierkind, das durch seine Hilflosigkeit Empathie verursachte. Auch die öffentliche Darstellung des Gewaltakts habe zu der Empörung beigetragen, sagt Gutjahr, genau wie die Tatsache dass in der Person von Zoodirektor Holst schnell ein Schuldiger ausgemacht werden konnte - während Schuldzuweisungen in der Fleischindustrie viel schwieriger sind.

Wissenschaftler wie der dänische Professor Peter Sandøe spotten wegen der Hysterie um das Giraffenkalb Marius über die "Disneyfizierung" niedlich wirkender Zootiere. Tatsächlich scheint ein Tier heute eine knuffige Form, einen Namen, ein niedliches Paar langbewimperter Augen oder zumindest ein außergewöhnliches Schicksal zu brauchen, damit die breite Masse der Menschen Empathie empfindet.

Auf kleine Giraffen trifft das in den meisten Fällen zu. Nutztiere haben es da schwerer. "Sie müssen schon aus ihrem Gatter ausbüchsen, wie Kuh Yvonne", sagt Soziologin Gutjahr. Oder sie brauchen einen eigenen Internetauftritt wie "Esther the Wonder Pig", ein Schwein, das als Haustier lebt und über dessen Erlebnisse seine Besitzer regelmäßig berichten.

Verlogen? Auf jeden Fall.

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