Amoklauf in Winnenden:Gegen Großkaliber und das Vergessen

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Winnenden, 100 Tage danach: Die 15-jährige Elena verlor drei Freundinnen und wurde schwer verletzt. Doch nicht nur sie hat täglich zu ringen.

Ann-Kathrin Eckardt

Es sind Kleinigkeiten, die das Leben für Elena jetzt erträglicher machen. Die Tür im neuen Klassenzimmer zum Beispiel. Sie ist nicht mehr hinten, sondern vorne, direkt neben der Tafel. Von ihrem Platz hat Elena sie gut im Blick.

100 Tage nach der Katastrophe: Die Gräber von Elenas Freundinnen in Winnenden (Foto: Foto: Eckardt)

Oder das Wetter. Wenn der FC Bayern München verloren hat, schien immer die Sonne. "Ein Zeichen von Jana", da ist sich Elena sicher. Am Grab hat sie ihrer Freundin bis zum letzten Spieltag die Bundesliga-Ergebnisse vorgelesen.

Es sind Pfingstferien, 32 Grad - ein perfekter Freibadtag, eigentlich. Aber Elena darf nicht zum Schwimmen. Die 15-Jährige sitzt in kurzen Hosen, die Beine angewinkelt, die braunen Haare zum Zopf gebunden, auf der Eckbank im abgedunkelten Wohnzimmer. "I love football" steht auf ihrem T-Shirt. Von ihren Fingernägeln blättert roter Lack. Auf ihrem rechten Arm kleben zwei Pflaster.

Elena hatte Glück

Die restlichen Verbände haben sie ihr abgenommen. Fünfmal hat Tim Kretschmer die Klassensprecherin der 9c der Albertville-Realschule am 11. März getroffen. Drei Durchschüsse im rechten, ein Streifschuss am linken Arm, einer am Hals, knapp an der Luftröhre vorbei. 16 Tage lag Elena im Krankenhaus. 14 Tage spürte sie die Finger ihrer rechten Hand nicht mehr. Trotzdem: Elena hatte Glück. Ihre drei besten Freundinnen nicht.

Chantal, Kristina, Jana - die Namen hat Elena mit Kuli auf den Unterarm geschrieben, darunter "friends like you are impossible to find". Ihre Freundschaft, das war "Desperate-Housewives-"Schauen mit Kristina, Mathe lernen mit Jana, ihrer Banknachbarin, vor dem Schlafen chatten mit Chantal und vieles mehr. An ihrem 16. Geburtstag sollen die Namen ein Tattoo werden, "etwas, das bleibt", sagt Elena. Es klingt entschlossen.

Wenn sie jetzt spricht, tut sie das, weil sie gegen das Vergessen kämpfen will. Denn wer sich in Winnenden drei Monate nach dem Amoklauf, an dessen Ende 16 Menschen tot waren, auf Spurensuche begibt, muss lange suchen.

Der Matschstreifen, den die vielen Übertragungswagen vor der Albertville-Realschule am Straßenrand hinterlassen haben, ist längst mit Kies aufgefüllt. Das Meer aus Engeln, Teddys, Kollagen und Briefen haben sie ins Stadtarchiv gebracht. In kleinen grauen Pappkisten lagern die Überbleibsel zwischen Müllmarken- und Vergnügungssteuer-Akten. Allein die Plüschtiere füllen ein Regal bis zur Decke.

Nicht eine Kerze brennt mehr vor der Schule. Eine Gedenkstätte gibt es noch nicht. Nur die grauen Container der Psychologen im Stadtgarten neben der Schule sind geblieben. Doch noch wird bei jedem Straßenfest, jedem Tennisturnier eine Gedenkminute anberaumt. Noch sagt die Stadt Feste und verkaufsoffene Sonntage ab - aus Rücksicht auf Angehörige der Opfer, auch wenn einige das gar nicht wollen.

Es allen recht zu machen, ist unmöglich. Dem Winnender Bürgermeister Bernhard Fritz ist die Anspannung der letzten Wochen anzusehen. Bei der Einweihung der neuen Container-Schule kurz vor den Pfingstferien standen ihm Tränen in den Augen. Interviews will er nicht mehr geben. Die Psychologen haben ihm abgeraten. "Wissen Sie, sich jeden Tag mit dem Amoklauf auseinanderzusetzen, kostet verdammt viel Kraft."

Abstand gewinnen will nicht nur der Bürgermeister. Zum Benefizkonzert für die Witwen der beiden Wendlinger Opfer des Amoklaufs kamen vor kurzem statt einiger tausend, wie erhofft, nur 130 Gäste. Die Sehnsucht nach Normalität ist überall zu spüren: Endlich mal wieder eine Mathearbeit, ein Gottesdienst ohne Trauerminute, endlich wieder eine Party ohne die Frage: "Was, ihr feiert schon wieder?"

Sigmar Stahl, 23 Jahre alt, Inhaber des "Walli" sagt: "Meine Gäste fahren jetzt abends lieber nach Stuttgart", sein Café in der Winnender Fußgängerzone ist seit Generationen Treffpunkt der Jugend. Die Stadt hat auch das dreitägige Stadtfest abgesagt.

Amoklauf
:Eine Stadt trauert

Entsetzen, Fassungslosigkeit und die Frage nach dem Warum: In einer Realschule im schwäbischen Winnenden tötet ein jugendlicher Amokläufer 16 Menschen - darunter neun Schüler.

Das macht die Arbeit der Psychologen nicht leichter. "Ablenkung ist in der jetzigen Phase sehr wichtig für die Jugendlichen", sagt Thomas Weber, Koordinator der psychologischen Nachsorge. Etwa drei Viertel der 570 Schüler der Albertville-Realschule haben bei Weber und seinen Kollegen Hilfe gesucht.

Nach dem Amoklauf
:Tod, Trauer und viele offene Fragen

Mehrere Tage nach dem Amoklauf versucht Winnenden, in den Alltag zurückzukehren. Unterdessen werden die Opfer der Tat beigesetzt, den Schülern steht ein schwerer Gang bevor.

Sie haben die Kinder eingestuft in "Risikopersonen", "Selbstheiler" und "Wechsler". Manche haben die Schüsse nur aus der Ferne gehört, andere mussten Tim in die Augen blicken und ihren Freunden beim Sterben zusehen, so wie Elena.

In der 9c hatte der 17-Jährige zuerst die Türe aufgerissen und geschossen, ehe sich die Schüler umdrehen und in Deckung gehen konnten. Die Türe war ja hinten. Chantal und Kristina saßen hinter Elena, Jana neben ihr. Jetzt sitzt eine Psychologin im Unterricht. Sie beruhigt, wenn nebenan ein Fenster schlägt und plötzlich Panik hochsteigt. Sie ist da, wenn der Uhrzeiger mittwochs auf 9.30 Uhr springt und die Blicke zur Tür wandern.

Natürlich wissen alle, dass Tim tot ist. Doch die Angst, er könnte wiederkommen, schaltet den Verstand aus. Auch dem Mathelehrer hilft die Psychologin, wenn er seinen Unterricht abbrechen muss. Er stand an der Tafel, als Tim um sich schoss. Wenn er nicht mehr kann, löst ihn einer der Kollegen ab. Unterricht halten sie jetzt immer zu zweit.

Elena hatte schon im Krankenhaus jeden Tag Besuch von einer Trauma-Psychologin. Sie hat ihr beigebracht, dass sie die Augen hin und her bewegen muss, wenn die Bilder im Kopf wiederkommen. Das soll helfen, die Emotionen aus der rechten Gehirnhälfte in der linken logisch zu verarbeiten und in Worte zu fassen.

Eine endlose Kette an Fragen

Doch auf die vielen Fragen, die sich in Elenas Kopf wie eine endlose Kette aneinanderreihen, kann die Psychologin keine Antwort geben. Warum waren Jana und Kristina nicht auch noch an diesem Tag krank? Warum hat ausgerechnet sie überlebt? Warum haben Tims Eltern nichts gemerkt? Woher kam dieser Hass?

Auf Letzteres hat eine 30-köpfige Sonderkommission versucht, Antworten zu finden. Doch auch 530 Vernehmungen und 400 Spuren und Hinweise lieferten kein Motiv. Ein Gutachter wertet noch Tims Krankenakte aus, um zu klären, ob er psychisch krank war und wenn ja, wie sehr. Doch dass es zu einem Prozess gegen Tims Vater kommen wird, der die Tatwaffe ungesichert im Schlafzimmer hatte liegen lassen, gilt als unwahrscheinlich.

Wenn Elena ihre Freundinnen in Weiler zum Stein, einem Nachbarort von Winnenden, auf dem Friedhof besuchen will, kommt sie an Tims Haus vorbei. Einmal war sie drin, bei einem Kindergeburtstag seiner Schwester. Acht Jahre ist das her. Jetzt ist das weiße Haus verwaist, der Briefkasten mit schwarzem Packband verklebt. Den Vater hat man noch einige Male gesehen. Seine Firma im Nachbarort hat einen neuen Geschäftsführer.

Tims Schwester, sagt man, wäre gern geblieben. Gar nicht so weit weg sollen sie jetzt wohnen. Die Möbel sind längst abgeholt, nur im Wintergarten stehen noch Stühle. Dafür, sagt die Nachbarin, kommen jetzt Touristen, "gestern waren sogar welche aus Hannover da."

100 Meter weiter steht das orangefarbene Haus der Familie Schill. Eine Yamaha Ténéré parkt davor. Auf ihr ist Uwe Schill mit seiner Tochter Chantal durch den noch verschneiten Welzheimer Wald zu einer Motorradmesse gefahren. "Ein sehr schöner Ausflug war das", sagt Uwe Schill und muss schlucken.

Zwölf Tage später ist er wieder auf seine Maschine gestiegen. "Mit dem Motorrad kommst du besser durch die Absperrungen", hatte seine Frau gesagt, als die ersten Meldungen im Radio liefen. Er ist hin- und hergerast zwischen Polizei-Einsatzzentrale und Schüler-Sammelplatz - fünf Stunden lang. Um 15 Uhr hatten sie Gewissheit: Chantal, das jüngste ihrer drei Kinder, war tot. Zwei Stunden später stand der erste Reporter vor der Tür.

In den nächsten beiden Wochen war ihr Wohnzimmer abends voller junger Menschen, sie trauerten und trösteten einander. Jetzt sitzen die Schills nach der "Tagesschau" wieder zu zweit auf dem Sofa und versuchen Normalität zu leben, wo keine mehr ist.

Oft treffen sie Elena am Grab. Dann reden sie über Chantal. Die meisten im Dorf trauen sich das nicht. Von Tims Eltern kam nichts. Keine Karte, kein Anruf - nur ein offener Brief über den Anwalt. Sehr enttäuscht habe sie das, sagt Chantals Mutter. "Wir kannten Tims Familie ja gut."

Einen offenen Brief haben kurz nach dem Amoklauf auch sechs der betroffenen Eltern unterzeichnet. Sie kämpfen seither unter anderem gegen Killerspiele und großkalibrige Waffen, und dafür, dass Waffen nur im Schützenverein lagern dürfen. Hardy Schober, Vorsitzender des Aktionsbündnisses und Vater von Jana, Elenas fußballvernarrter Freundin, hat mit der Polizei den Tatort besichtigt und gesehen, welche Durchschlagskraft Tims Pistole hat, eine Neun-Millimeter-Beretta.

Eine Kugel durchdrang eine dicke Holztüre und die acht Meter dahinter stehende Lehrerin. Erst im Fensterrahmen blieb das Geschoss stecken. Das eben verschärfte Waffengesetz lässt solche Großkaliber in Schützenvereinen zu. Deshalb sammeln sie Unterschriften.

Auch Elena hat sich mit der Liste in Stuttgart in die Königstraße gestellt. Ihre Freundinnen sollen nicht umsonst gestorben sein: "Ich muss ja jetzt für sie weiterleben", sagt sie und schließt einen Moment die Augen.

Was das für ein Leben sein wird, weiß sie nicht so genau. Eigentlich wollte sie Polizistin werden. Aber ihre Angst vor Schüssen ist jetzt groß.

© SZ vom 18.06.2009/aho - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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