Notfallmedizin:Wenn EU-Ausländer keinen Platz im Gesundheitssystem haben

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Beim plastischen Chirurgen Heinrich Schoeneich findet Ivanka Radkova Hilfe. Er konnte zumindest ihr nicht mehr schließendes Augenlid operieren. (Foto: Florian Peljak)
  • Bei einer Gasexplosion zieht Ivanka Radkova sich schwerste Verbrennungen zu.
  • Weil die Bulgarin nicht versichert ist, ist sie auf medizinische Hilfsorganisationen angewiesen.
  • Ihre Situation ist auch deswegen so brenzlig, weil die Gesetze zur Sozialhilfe für EU-Ausländer verschärft wurden.

Von Sven Loerzer

An den Tag, von dem an sich ihr Leben zunächst zum Besseren wenden sollte, wenigstens für eine kurze Zeit, kann sich Ivanka Radkova (Name geändert) noch sehr gut erinnern. Am 5. Oktober 2016 kam Ivanka Ratkova nach München, "weil ich keine Perspektive hatte, in Bulgarien für meinen Lebensunterhalt zu sorgen". Sie hatte als Näherin gearbeitet, aber dann keinen Job mehr gefunden. 18 Euro monatlich habe sie Arbeitslosengeld bekommen, mal bei der einen und dann wieder bei einer anderen Cousine geschlafen. Wo sie sich auch bewarb, bekam sie als Angehörige der Minderheit der Roma in Bulgarien noch nicht einmal ein Vorstellungsgespräch.

In München dagegen, da habe sie innerhalb einer Woche Arbeit gefunden: ein Minijob im Reinigungsgewerbe, 450 Euro im Monat, "da ging es mir gleich besser", sagt Ivanka Radkova: "Ich hatte Geld auf meinem Konto, es hat zum Leben gereicht." Weil sie auf vieles verzichtet hat, denn für ein winziges Zimmer in einem heruntergekommenen Sendlinger Haus musste sie monatlich 300 Euro Miete bezahlen. Der Verwalter kam regelmäßig, um bei ihr und den dort wohnenden sechs Familien zu kassieren. "Ich hatte Aussichten auf einen zweiten Minijob", erzählt die 54-Jährige. "Aber dann hat ein Unfall mein Leben zerstört."

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Fast ein Dreivierteljahr ist seitdem vergangen, aber Ivanka Radkova leidet noch immer an den Folgen der schweren Verbrennungen, die sie im Gesicht, an den Armen und an den Händen erlitten hat. Narben überziehen das Gesicht, ein Augenlid schließt nicht mehr, gegen die Schmerzen muss sie Medikamente nehmen. Die Tränen laufen ihr über die Wangen, als sie vom 17. Januar dieses Jahres berichtet. Sie war zurückgekommen von der Arbeit in ihr kleines Zimmer, "ich habe mich zum Schlafen hingelegt".

Weil es sehr kalt war, sei sie wieder aufgewacht: "Ich wollte den Gasofen anmachen." Dabei kam es zu einer Explosion. Gott habe sie gerettet, ein Loch in der Wand sehen lassen, durch das sie dem Feuer entkam. Sie lief, offenbar im Schockzustand, zur U-Bahn, auf dem Bahnsteig am Hauptbahnhof brach die lebensgefährlich Verletzte zusammen. Wie sie dort hinkam, weiß sie nicht mehr. Als sie kurz zu sich kam, standen Polizisten um sie herum, die den Notarzt riefen.

Im Krankenhaus versetzten sie die Ärzte in ein künstliches Koma. Beim Erwachen, "war mir nicht bewusst, dass ich Verbrennungen habe". Schwerste Verbrennungen dritten Grades an etwa zehn Prozent der Körperoberfläche, vor allem auch an beiden Händen, und Verbrennungen zweiten Grades im Gesicht, wodurch sich ein Augenlid nicht mehr schließen ließ. "Eine ambulante Anschlussheilbehandlung" sei organisiert worden, steht im Arztbrief der Klinik, auf Grund der ausstehenden Kostenübernahme könne "diese aktuell nicht angetreten werden". Dort heißt es auch, die Patientin habe die Klinik am 16. März ohne Rücksprache mit den behandelnden Ärzten verlassen und somit gegen ärztlichen Rat. Daran, dass dies so zutrifft, bestehen zumindest Zweifel, zumal die Patientin auch nicht Deutsch spricht.

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Weil Ivanka Radkova keinen Krankenversicherungsschutz hatte, war sie nicht einmal dazu in der Lage, die benötigten Schmerzmittel, Salben und Verbände zu besorgen. Und die Rechnung für den Krankentransport im Notarztwagen, 700 Euro, kann sie auch nicht zahlen. Eigentlich hätte sie auch Kompressionswäsche benötigt. Die soll überschießende Narbenbildung verhindern, wie sie nach tiefergehenden Verbrennungen häufig vorkommt. In ihrer Verzweiflung suchte sie "Open.med" auf, die Anlaufstelle, mit der die Hilfsorganisation Ärzte der Welt Nichtversicherte in Notlagen unterstützt.

Alleine rund 4000 Euro hätte die eigens anzufertigende Kompressionswäsche gekostet, erklärt Open.med-Mitarbeiterin Valentina Manasieva, Kosten, die auch die Anlaufstelle nicht finanzieren kann. Aber wenigstens die Medikamente zur Pflege der Wunden konnte Open.med der Frau sichern. Außerdem stellte ein ehrenamtlich dort arbeitender Medizinstudent den Kontakt zur Münchner Sektion von Interplast Germany her. Der gemeinnützige Verein hilft vor allem Brandverletzten in Entwicklungsländern: Operationsteams versorgen vorwiegend Kinder, die durch Feuer, Fehlbildungen oder Kriegsverletzungen schwere Beeinträchtigungen erlitten haben. Der plastische Chirurg Heinrich Schoeneich, Vorstand von Interplast München, hat jetzt Ivanka Radkova untersucht und anschließend operiert.

Dabei geht es nicht um eine Schönheitskorrektur, die Wiederherstellung des von der Verbrennung gezeichneten Gesichts, sondern ausschließlich um eine Funktionsverbesserung beim Augenlid, so Schoeneich. Denn das eine Augenlid schließt nicht mehr, was langfristig zur Hornhautschädigung mit Eintrübung bis hin zur Erblindung führen kann. Über Interplast will Schoeneich auch Krankengymnastik für die Patientin organisieren, denn schon jetzt "steift die Hand ein". Übungen könnten das verhindern, so lange die Narben noch weich sind.

Untergekommen ist Ivanka Radkova inzwischen in einer Container-Unterkunft im Münchner Westen, die sie sich mit einer weiteren Frau teilt. 350 Euro pro Kopf sind fällig, sie muss aber nur 200 Euro bezahlen, der Vermieter hatte Mitleid, genauso wie die Mitbewohner, die für sie gesammelt und die Miete bis Ende August finanziert haben. Wie es dann weiter geht? Sie weiß es nicht. "Ich möchte wieder arbeiten, ich brauche keine Sozialhilfe." Auf keinen Fall will sie zurück nach Bulgarien, wohin sollte sie da auch?

Das Team von Open.med hat ihr geholfen, einen Antrag auf Hartz-IV-Leistungen zu stellen. Bekäme sie Unterstützung vom Jobcenter, wie sie ihr als Arbeitnehmerin mit nicht ausreichendem Einkommen zustünde, dann wäre sie auch als Minijobberin krankenversichert. Aber Hartz-IV-Leistungen gibt es nicht rückwirkend, sondern erst ab Antragstellung. Außerdem fehlen noch einige Nachweise für die Bearbeitung des Antrags. Ivanka Radkova musste erst eine Vollmacht beim bulgarischen Konsulat erstellen lassen, damit eine in Bulgarien lebende Verwandte dort Nachweise über etwaiges Einkommen und Vermögen, das anzurechnen wäre, einholen kann.

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Keine Chance mehr auf staatliche Unterstützung für ambulante oder stationäre medizinische Behandlung besteht im Rahmen der Sozialhilfe, denn seit diesem Jahr sind die Bedingungen für EU-Ausländer erheblich verschärft worden. Bisher hätte sie nach gängiger Rechtsprechung nach sechsmonatigem Aufenthalt Anspruch auf Sozialhilfe haben können, aber eine Gesetzesänderung im letzten Jahr unterbindet das: Für Staatsangehörige aus Bulgarien sind demnach Leistungen für stationäre und ambulante ärztliche Behandlungen seit 1. Januar nicht mehr möglich - es sei denn, sie halten sich schon länger als fünf Jahre erlaubt in Deutschland auf. Nur wenn sich jemand nachweislich zur Rückreise in sein Heimatland entschlossen hat, kann ein Überbrückungsgeld beantragt werden, für maximal vier Wochen. In dieser Zeit würden dann auch die Kosten für die Behandlung übernommen, aber nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen.

Die Gesetzesänderung im Sozialhilferecht treffe sehr häufig EU-Bürger aus Südosteuropa, sagt Valentina Manasieva. Sie blieben damit von dringlicher medizinischer Behandlung ausgeschlossen. Ärzte und Krankenhäuser bringe das zunehmend in den Konflikt zwischen der Pflicht zur Nothilfe und finanziellem Risiko.

Diese würden nun "viel genauer hinsehen, welche Patienten sie als Notfälle aufnehmen, da sie ab sofort die Kosten für eine Notfallversorgung nur privat in Rechnung stellen können und damit ein hohes finanzielles Risiko tragen", klagt die Mitarbeiterin von Ärzte der Welt. "Da muss eine Lösung gefunden werden auf europäischer Ebene."

Zurück nach Bulgarien will Ivanka Radkova auf keinen Fall. Valentina Manasieva hat dafür Verständnis, denn sie kennt die Situation in Bulgarien gut: "Roma werden dort wie Menschen zweiter Klasse behandelt." Und so hofft Ivanka Radkova inständig, dass "meine Hände mir erlauben, bald wieder zu arbeiten".

© SZ vom 25.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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