München:Der Duft der Bücher

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Hisako Inoues "Bibliothek der Gerüche" in der Villa Stuck lädt zu Lese-Experimenten mit der Nase. Die Besucher testen die Wechselwirkung von Papieraromen, Gefühlen und Erinnerungen

Von Jutta Czeguhn

Ein gepresster Lavendelzweig im Buch Nummer 7. War der Besitzer von Friedrich Max Kircheisens Standardwerk "Nelson - Die Begründung von Englands Weltmachtstellung" (1926) womöglich ein Romantiker, der sich nicht nur für die militärischen Meriten des Flottenadmirals interessierte, sondern auch von Lord Nelsons skandalöser Affäre mit Lady Hamilton rühren ließ? Der zarte Duft des Lesezeichens hängt auch nach über 90 Jahren noch zwischen den vergilbten Seiten und ist doch stets in ernster Gefahr, von anderen Aromen - modrig, rauchig und grasig - in den Hintergrund gedrängt zu werden. Oder ist das am Ende alles nur eine Sinnestäuschung?

In ihrer Schau dürfen Besucher zwischen Buchdeckeln schnuppern. (Foto: Robert Haas)

Für spannende Riech-Abenteuer offene Nasen zieht es derzeit in die Villa Stuck, wo die japanischen Künstlerin Hisako Inoue ihre "Bibliothek der Gerüche" unter Glasglocken präsentiert. Bei diesem etwas anderen Literaturfest, das sich irgendwo zwischen Teezeremonie, Weinprobe und Aromatherapie abspielt, geht es nicht um Autoren, Prosa oder Poesie, sondern um da Verhältnis von Mensch und Buch an sich. Inoue will es über die Nasenhöhle ergründen.

"Bücherreinigungsmaschinen sind mein größter Feind", sagt die japanische Künstlerin Hisako Inoue, für die Gerüche eine direkte Spur in die Vergangenheit sind. (Foto: Nikolaus Steglich)

Der Ort, den die Geruchskünstlerin und ihre Kuratorin Anne Marr für dieses Experiment gefunden haben, mutet selbst an wie ein begehbares Buch: Die historischen Prunkräume der Stuckschen Künstlervilla - Speisesaal, Boudoir, Bibliothek, Rauchsalon und das Alte Atelier - verströmen mit ihrem dunklen Holz, dem Damast und der Kunst an den Wänden die Aura eines Fin-de-Siècle-Romans. Hier weht einen die Vergangenheit an, und das Riechhirn meldet, reine Einbildung womöglich, feinste Stimmungen von teurem Parfüm, Chrysanthemen, Ölfarben und schwerem Tabak. Hier könnte Marcel Prousts Erzähler sein Madeleine-Gebäck in Lindenblütentee getaucht haben und in den Erinnerungsflow geraten sein. Voilà, das berühmte "Proust-Phänomen". Auch Hisako Inoue möchte mit ihrem Geruchsexperiment die Besucher auf die Suche nach der verlorenen Zeit schicken, sie zum Zurückblättern im ihrem Lebensbuch verleiten.

Die Besucher der Villa Stuck dürfen auch in Altpapier baden. (Foto: Robert Haas)

Unter den rund zwanzig Glasglocken verschiedener Größe, die Inoue über den ehemaligen Speisesaal verteilt hat, liegen nun also keine Biskuit-Kekse, sondern alte Bücher. Die Künstlerin, Jahrgang 1976, hatte sich im Spätsommer 2016, da war sie Stipendiatin der Villa Waldberta, durch Münchner Antiquariate und Flohmärkte gerochen, in Regalen von Freunden geschnuppert. Da sie kein Deutsch spricht, ließ sie sich ganz von ihrem Geruchssinn leiten. Und so warten neben Lord Nelson nun etwa eine Bibel-Ausgabe von 1819, Homers "Ilias", ein Landser-Heftchen über den Dschungelkrieg im Pazifischen Ozean oder Walt Disneys "Olympia in Entenhausen" auf eine Schnupperstunde mit den Museumspublikum.

Bis zu 200 chemisch nachweisbare Aromen wie etwa Borneol können in einem Buch stecken. (Foto: Robert Haas)

Ehe diese Bücher, die man wohl besser riechen als lesen sollte, unter den Glasglocken auf den Ausstellungssockeln ihren Platz fanden, nahmen sie einen kleinen Umweg über das Labor von Dr. Mika Shirasu. Die Wissenschaftlerin an der Staatlichen Universität von Tokio ließ die alten Bücher zunächst von trainierten Nasen testen, nach insgesamt zwölf Geschmackskategorien, wie etwa grasig, duftend, erdig, minzig oder fischig. So entstand für jedes Buch ein Netzdiagramm, das die Besucher jeweils neben der Glasglocke finden. Dass noch weit mehr, nämlich bis zu 200 Aromen zwischen den Seiten eines Buches sitzen, konnte Mika Shirasu durch Tests mit ihrem Gas-Chromatografen samt Massenspektrometer nachweisen. 18 davon, darunter Kampfer, Essigsäure oder Vanilin, sind im Boudoir der Stuck-Villa in kleinen Apothekerfläschchen zu riechen.

Die aufwendige Laborreihe in Japan sieht Hisako Inoue als Teil ihrer Performance. Ihre Bibliothek der Gerüche aber beginnt erst dann zu existieren, wenn die Museumsbesucher die Glasglocken heben und mit geblähten Nasenflügeln den Duft der Bücher in sich aufnehmen. Das Partizipatorische sei für ihre geruchsbasierte (olfaktorische) Kunst entscheidend, sagt Inoue, die aus einem Land mit großer Dufttradition und heute panischer Geruchsphobie kommt, einem Land, in dem man Bücher in spezielle Reinigungsmaschinen steckt, und die Menschen Pillen gegen Schweißbildung schlucken.

Inoue hat den in der seh-zentrierten bildenden Kunst so sträflich vernachlässigten Geruchssinn für sich entdeckt, als sie bei einem Projekt 80 000 Schokolinsen auf einer Bühne verteilte, die ihr Publikum mit den Füßen zerstampfen konnten. Anders als sonst in Bibliotheken oder Museen müssen die Besucher der Villa Stuck nicht stumm auf Zehenspitzen durch den Raum mit den Glasglocken laufen. So hört man in dieser besonderen Bücherschau verzückte Ausrufe, Lachen, Diskussionen. Besonders viele ältere Menschen mit einem Schatz an Erinnerungen, aber auch Sehbehinderte arbeiten sich mit Wonne durch den Lesestoff und lassen sich von Hisako Inoue stimulieren, ihr eigens Vokabular für die Gerüche zu finden.

Das tut die Japanerin mit feinem Humor, etwa wenn sie das eher süßlich duftende Landserheftchen nicht mit Wehrmachtsmüffelei, sondern einem "modisch gestylten älteren Herr" assoziiert oder den "Stress eines Redakteurs" in einer Abhandlung über die Renaissance wittert. Zu einer Poetin ihrer Nase aber wird Hisako Inoue bei einem Buch mit Südseemärchen. Es duftet für sie nach einem "Nachmittag, an dem mir ein Stein vom Herzen fällt".

"Die Bibliothek der Gerüche" von Hisako Inoue, Villa Stuck, bis 14. Januar; Führung mit Kuratorin Anne Marr am Mittwoch, 29. November, 17 Uhr; Kinderprogramm "Kann ich eine Geschichte riechen" am 3. Dezember und 6. Januar, jeweils 14 Uhr; "Gerüche lesen!", Workshops mit Hisako Inoue in der Villa Stuck und der Monacensia im Hildebrandhaus am Mittwoch, 10. Januar, 11 bis 15 Uhr, Anmeldung unter 455 55 10 oder anne.marr@muenchen.de.

© SZ vom 25.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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