Heimatsuche:"Was habe ich getan, dass ich so gestraft werde?"

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Maivand im Kindergarten, den er gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder besucht. (Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)
  • Die Familie Sarvar ist im Frühjahr 2016 von Afghanistan nach Deutschland geflüchtet.
  • Sie erlitten nun erneut einen Schicksalsschlag, aber zuletzt gab es auch erfreuliche Entwicklungen - zum Beispiel im Kindergarten.
  • Die SZ begleitet das Leben der Familie in der neuen Heimat in einer Langzeit-Reportage.

Von Katharina Blum und Nina Bovensiepen

Nein, Gulam Sarvar möchte die Bilder nicht sehen, die seine Frau Fazila Asif aus dem Schrank holt. Die Fotos sind in einer Mappe verwahrt, der Vater wendet sich ab, als die Mutter die wenigen Erinnerungen herausholt, die von ihrem Kind geblieben sind. Von ihrem Sternenkind.

Es ist ein Sommertag im Juni in der Flüchtlingsunterkunft in Edling, einer dieser 30-Grad-Tage, an denen die Sonne unermüdlich vom blauen Himmel strahlt, die Vögel zwitschern, die Menschen sich luftig kleiden. Die Leichtigkeit des schönen Tages steht in krassem Kontrast zu den Erlebnissen der Familie Sarvar in den vergangenen Wochen.

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An diesem 7. Juni war ursprünglich ein Ausflug in den Wildpark bei Wasserburg geplant, mit den Zwillingen Maivand und Maihan, ihren Eltern und den beiden Journalistinnen von der SZ, die die Familie seit fast einem Jahr begleiten. Doch ein als Routine gedachter Besuch beim Gynäkologen brachte am Vormittag eine schreckliche Gewissheit: Das Baby, das Fazila Asif zu dieser Zeit im Bauch trägt, lebt nicht mehr. Das kleine Herz hat in der 21. Schwangerschaftswoche aufgehört zu schlagen.

"Was habe ich getan, dass ich so gestraft werde?", fragt Gulam Sarvar am Abend dieses 7. Juni, während seine Frau im Krankenhaus in Wasserburg liegt und darauf wartet, dass die künstlich eingeleiteten Wehen einsetzen. Das Kind, das sie sich gewünscht haben, wird nur noch tot zur Welt kommen. Ein Sternenkind, wie sie genannt werden, nach dem Gedanken, dass diese Kinder den Himmel erreichen, bevor sie das Licht der Welt erblicken können. Nach der Geburt bleiben Fazila Asif und Gulam Sarvar nur ihre Erinnerungen, die Fotos und ein paar Geburtspapiere aus dem Krankenhaus.

Einige Wochen später, als Fazila Asif die Fotos hervorholt, die ihr Mann nicht sehen mag, tut es ihr immer noch sehr weh. Trotzdem lächelt die Mutter, wenn sie die Bilder betrachtet. Und sie spricht auch darüber, warum sie dieses Kind wollte, obwohl doch so viel Unsicherheit über dem Leben der Familie liegt. Sie wissen immer noch nicht, ob sie nun in Deutschland anerkannt werden.

Ob sie bleiben dürfen in ihrer neuen Heimat oder ob ihnen mitgeteilt wird, dass sie nach Afghanistan abgeschoben werden sollen, in jenes Land, in dem viele ihrer Verwandten gestorben sind, ein Land, das alles andere als ein sicheres Herkunftsland ist, zu dem es trotzdem immer wieder erklärt wird, und in das Gulam Sarvar mit seiner Familie keinesfalls zurückkehren will.

Schon einmal sah es so aus, als müssten sie gehen, weil ein Bescheid nach Angaben der Post nicht zugestellt werden konnte, obwohl der Briefkasten mit ihrem Namensschild gut sichtbar rechts neben der Eingangstür der Containermodule hängt. Im Asylverfahren gilt er trotzdem als zugestellt, die Familie hat ihren Anhörungstermin verpasst.

Gulam Sarvar beim Lernen. (Foto: Christian Endt, Fotografie & Lic)

Ein Anwalt hatte für die Familie deshalb Ende des vergangenen Jahres Klage eingereicht. Für Ende Juli haben sie jetzt einen neuen Termin bekommen. An ihrer Bleibeperspektive hätte sich im Übrigen nichts geändert durch ein weiteres Familienmitglied.

Schon jetzt trägt der Vater allerdings häufig schwer an der Verantwortung für das Leben der vierköpfigen Familie, das seit der Flucht aus der Heimat vor eineinhalb Jahren so unkalkulierbar geworden ist. Und trotzdem wollten sie noch ein Kind. "Weil es in einem Land ohne Krieg geboren wäre", sagt Fazila Asif. Ihre Zwillinge hätten mit gerade einmal drei Jahren schon so viel Schlimmes erlebt.

Wenn ihre Mutter weint, weinen sie manchmal mit

Dieses Geschwisterkind hätte zumindest eine Chance darauf gehabt, in Frieden aufzuwachsen. Solche Gedanken kehren immer wieder in diesen Tagen, und auch wenn Maivand und Maihan nicht wirklich begreifen, warum ihre Mutter jetzt öfter weint, weinen sie manchmal mit.

An dem Vormittag, an dem die Eltern in dem Container in Edling über das verlorene Kind sprechen, sind die Zwillinge allerdings mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Mit solchen, wie man sie sich für Kinder wünscht - zum Beispiel damit, mit Gleichaltrigen im Sandkasten zu spielen.

Kurz nach dem dritten Geburtstag sind die beiden in den Edlinger Kindergarten gekommen. Der präsentiert sich an so einem schönen Sommertag als kleines Idyll für die Kleinsten des Ortes. Am Rande von Edling gelegen, mit freundlichen, bunt gestalteten Räumen, in denen Zeichnungen der Kinder hängen und in denen sich jede Menge Spielzeug findet, mit einem großzügigen Garten, in dem der große Sandkasten wartet, eine Hängematte, ein Trampolin, Holzhäuser zum Spielen.

49 Kinder sind in den zwei Gruppen "Hänsel" und "Gretel" untergebracht. Maivand und Maihan sind derzeit die einzigen Flüchtlingskinder, und damit die beiden schneller Deutsch lernen und den Kontakt zu den anderen Kindern finden, sind sie nicht in derselben Gruppe, sagt die Leiterin Gerda Rieder. So nehmen sie getrennt an den Ritualen teil, in die der Kindergarten-Tag unterteilt ist.

Der Tagesrhythmus der Gretelgruppe etwa, so steht es auf einem im Flur aufgehängten Zettel, sieht an diesem Dienstag so aus: zwischen 7 und 8.30 Uhr bringen die Eltern die Kinder, von 8.30 an findet eine halbe Stunde der Morgenkreis statt, in dem eine Kerze angezündet, gesungen, eine Geschichte vorgelesen wird, ein Gebet oder Verse gesprochen werden.

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Um neun geht es raus an diesem heißen Tag. "Freispiel" nennt sich der Programmpunkt, zu dem die Kinder ihre bunten Schirmmützen aufsetzen, die für jeden an seinem Garderobenplatz hängen. Danach gibt es eine Brotzeit und dann geht es mit der sogenannten "Sauserunde" weiter. So gliedert sich der Tag weiter bis maximal 16 Uhr, wenn die letzten Kinder abgeholt werden.

Diese Woche ist insofern besonders, als am Freitag das Sommerfest stattfindet, und zwischendurch immer wieder Proben für das Hänsel-und-Gretel-Singspiel anstehen. Zum Fest sind auch die Eltern eingeladen. Gulam Sarvar und Fazila Asif bereiten sich schon vor - sie wollen ein afghanisches Gericht kochen, Reis mit Lammfleisch, Karotten und Rosinen. Für sie ist es keine Frage, dass sie teilnehmen.

Kindergartenleiterin Rieder findet für die Eltern wie die Zwillinge nur anerkennende Worte. In ihren 18 Jahren in der Einrichtung habe sie schon anderes erlebt - dass Menschen aus anderen Kulturkreisen sich nicht an Zeiten halten, dass sie sich schwertun, sich einzugliedern.

Wer Maivand und Maihan beobachtet, hat das Gefühl, dass sie sich wohlfühlen hier. Der eine pflückt eifrig Johannisbeeren, während der andere im Sandkasten mit Förmchen und Bagger spielt. An den ersten Tagen war das noch anders, da wollten sie nicht bleiben, an dem fremden Ort. Sie weinten. Jetzt seien sie immer "sehr happy", wenn es morgens losgeht, sagt der Vater. Und noch etwas hat sich geändert, glaubt er: Die beiden würden anfangen, miteinander Deutsch zu sprechen.

Zarte Anfänge sind das allerdings erst. Hier macht sich vermutlich bemerkbar, dass die Zwillinge keine normale Kindheit erlebt haben. Maivand und Maihan sprechen bisher keine Sprache richtig. Normalerweise können sich Kinder mit drei Jahren gut verständlich machen. Die beiden können das weder in der afghanischen Sprache Dari, in der die Eltern miteinander reden, noch auf Deutsch.

Alte Heimat, neue Heimat: Die Familie Sarvar kam von Afghanistan nach Edling. (Foto: Johannes Simon)

Ein Grund dafür könne eine Trauma-Erfahrung sein, sagt Julia Blanco von der internationalen Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Schlimme Erlebnisse könnten das Lernen blockieren. Üblicherweise lernen Kinder mit zwölf, 15 oder 18 Monaten zu sprechen. Als Maivand und Maihan so alt waren, begann die Flucht der Eltern aus Afghanistan.

Kinder, bei denen die Herkunftssprache nicht ausgeprägt ist, haben automatisch Nachteile beim Lernen weiterer Sprachen. Gerda Rieder vom Edlinger Kindergarten hält deshalb Rituale wie das morgendliche Singen für wichtig. "Das ist für die Entwicklung der Sprache fördernd", sagt sie. Und sei gerade für Kinder wie Maivand und Maihan gut, weil sie beim Singen nicht herausgehoben seien aus der Gruppe. Ein schiefer Ton, ein falsches Wort fallen wenig auf.

Das mangelnde Sprachvermögen ist nicht das einzige, was die Zwillinge von den anderen Kindern in den Hänsel- und Gretel-Gruppen unterscheidet. Unter den vielen bunten Bildern, die im Flur hängen, findet sich ein Exemplar, das ganz anders ist: lediglich ein paar schwarze Striche und Kreise auf dem ganzen Blatt Papier. Maihan hat es gemalt.

In anderem sind die Zwillinge dann wieder genau so wie andere Kinder. "Sie ahmen alles nach", sagt eine der Kindergärtnerinnen. Besonders den Blödsinn, weshalb die Älteren gebeten wurden, möglichst wenig davon zu machen, wenn die beiden dabei sind. Auch Maivand und Maihan wären gute große Brüder, glaubt Fazila Asif. Sie mögen kleine Kinder und spielen gerne mit ihnen, weshalb sie auch gerne noch ein Kind gehabt hätte. "Meine Frau entscheidet", sagt Gulam Sarvar. "Wenn sie will und kann, dann machen wir das."

© SZ vom 21.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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