Geburtshilfe:Wenn die Aufnahme in den Kreißsaal vom Zufall abhängt

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Die ersten Momente in der neuen Welt. (Foto: Imago)
  • Wegen eines neuen Schiedsspruches können freiberufliche Hebammen in Deutschland von Januar an nur noch zwei Frauen gleichzeitig betreuen. Für eine Dritte werden sie nicht mehr bezahlt.
  • In München besteht die Sorge, dass sich die Situation weiter verschärft. Bereits jetzt werden Hochschwangere von Kliniken weggeschickt.
  • Beleghebammen sind sauer: "Man hat das Gefühl, die wollen, dass wir aussterben."

Von Lisa Böttinger

Um kurz vor drei Uhr am Nachmittag hat sich Eva Demter von der vergangenen Nacht erholt. Die Schicht der Hebamme im Helios-Klinikum München-West in Pasing hat nicht wie geplant zwölf Stunden gedauert, sondern 18. Zwei Frauen hat sie in dieser Nacht aufgenommen, die in anderen Kliniken keine Hebamme gefunden hatten. Dass Kliniken Hochschwangere wegschicken und an andere Geburtsstationen verweisen müssen, ist in München bereits gängig - wegen akuten Personalmangels. Eine Webseite zeigt den Hebammen dann in Echtzeit die Lage in anderen Kliniken: Sind sie rot markiert, kann dort keine Frau mehr aufgenommen werden. "Es gibt Tage, da sehe ich fast nur rot", sagt Demter, die seit 30 Jahren als Hebamme arbeitet, 23 davon in München.

Die Situation der Geburtshilfe in München ist bereits jetzt angespannt, von 2018 an wird sie sich wohl noch deutlich zuspitzen. Am 5. September ist ein Schiedsspruch zwischen dem Deutschen Hebammenverband (DHV), dem Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands (BfHD) und dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) gefallen. Ihm zufolge können Beleghebammen einerseits rückwirkend ab Juli um 17 Prozent höhere Sätze abrechnen. Andererseits aber dürfen sie ab Januar nur noch maximal zwei Frauen gleichzeitig versorgen. Kommt eine dritte Patientin, muss binnen einer Stunde eine weitere Hebamme per Rufdienst zugezogen werden. Andernfalls kann die Hebamme die dritte Frau zwar betreuen. Bezahlt wird sie dafür aber nicht.

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Betroffen sind davon ausschließlich Beleghebammen, also Freiberuflerinnen, die in Kliniken arbeiten, ihre Leistungen aber direkt mit den Krankenkassen abrechnen. Festangestellte Hebammen hingegen können auch weiterhin so viele Frauen gleichzeitig betreuen, wie sie es sich zumuten. "Ob eine Frau am Kreißsaal noch eingelassen wird oder nicht, hängt demnach davon ab, ob die gerade diensthabende Hebamme Freiberuflerin oder Angestellte ist", verdeutlicht Demter das Dilemma.

Und besonders betroffen ist unter anderem München. Seit Jahren tun sich Kliniken in der Stadt schwer, Hebammen zu finden, die sich im teuren München für einen Bruttolohn von 2700 Euro fest anstellen lassen wollen. Das für die Hebammen einträglichere Belegsystem bot einen Ausweg. Die Zahl der Geburten in München, die durch Beleghebammen begleitet worden sind, ist laut DHV von 29,5 Prozent im Jahr 2014 auf zuletzt 47,8 Prozent im Jahr 2016 gestiegen. Das ist erheblich mehr als anderswo: Dem Verband zufolge verantworten Beleghebammen deutschlandweit nur 20 Prozent der Geburtshilfe.

In Münchens größter Geburtsklinik, der Rotkreuz-Frauenklinik an der Taxisstraße, in der 2016 fast 3600 Kinder zur Welt kamen, arbeiten bis auf eine Ausnahme nur Beleghebammen. Vor zweieinhalb Jahren hat die Klinik auf das System mit 28 Freiberuflerinnen umgerüstet. "Damit waren wir auch bei hohem Geburtenaufkommen gut aufgestellt", sagt die leitende Hebamme Kathrin Fiedler. Nun fürchtet die Station um ihr Personal - und um die schwangeren Frauen. Wenn die neue Regel in Kraft trete, dann sei "etwa ein Drittel der Münchner Frauen nicht mehr betreut", schätzt Ina Rühl, die leitende Oberärztin.

Der GKV-Spitzenverband verweist in einer Pressemitteilung darauf, der Schiedsspruch ermögliche eine "bessere Betreuung für werdende Mütter". Schwangere würden damit individueller versorgt. Doch an der Realität in Münchner Kreißsälen geht diese Rechnung vorbei: Es fehlen die nötigen Hebammen. "Mit diesen Vorgaben müssten entweder 1500 Frauen weniger schwanger werden, oder wir müssen einen Flieger nach Berlin schicken," kommentiert Rühl.

"Einkalkulierter Kollateralschaden"

"Ginge es dem Spitzenverband wirklich um eine individuellere Betreuung für schwangere Frauen in Deutschland, dann müsste der maximale Betreuungsschlüssel von eins zu zwei auch für festangestellte Hebammen gelten", sagt Astrid Giesen, die erste Vorsitzende des Bayerischen Hebammen-Landesverbandes.

Eva Demter, die Beleghebamme in Pasing, wird im Zweifel in Kauf nehmen, unbezahlt zu arbeiten, wenn zu viele Frauen unter Wehen vor dem Kreißsaal stehen. "Schließlich müsste ich mich sonst auch auf eine Klage wegen unterlassener Hilfeleistung gefasst machen", meint sie trocken. Die Folgen des Schiedsspruches für Schwangere und junge Familien bezeichnet sie als "einkalkulierten Kollateralschaden": noch mehr Frauen, die unter Wehen verlegt werden müssen. Neugeborene mit speziellen Komplikationen, die in eine andere Klinik geflogen werden, weil dort, wo sie geboren wurden, zwar eine Hebamme, aber keine Neonatologie zur Verfügung steht. Und immer mehr Zeit- und Leistungsdruck für freiberufliche Hebammen. Wie Giesen fürchtet auch Demter, dass viele Kolleginnen kündigen werden.

Die Beleghebammen sind vor allem eines: stinksauer. "Man hat das Gefühl, die wollen, dass wir aussterben", sagt eine, die anonym bleiben möchte. Schließlich seien Beleghebammen für die Krankenkassen teurer als eine Klinik mit angestellten Kolleginnen. Doch auch der DHV kommt bei vielen Mitgliedern nicht gut weg: Man habe schlecht verhandelt, heißt es. Manche Hebammen fordern gar den Rücktritt des DHV-Präsidiums.

Und die schwangeren Frauen in München, die eigentlichen Leidtragenden? Die Stadt will ihnen seit August mit einer Notfall-Hotline helfen: Sie soll Frauen, die keine Hebamme etwa für Hausbesuche von Mutter und Kind im Wochenbett gefunden haben, spontan freigewordene Kapazitäten vermitteln. Doch dafür muss das Kind erst einmal auf die Welt gebracht werden.

© SZ vom 20.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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