Eltern-Alltag in München:Vater, Mutter, Chaos

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Die Ansprüche sind hoch, das Geld ist knapp, die Zeit sowieso: Familien in München stehen ständig unter Druck, ihr Leben organisiert zu bekommen. Der Kita-Streik zeigt auf, wie anfällig das System ist.

Von Sabine Buchwald

Neulich in Berlin: Maibowle trinken bei Freunden von Freunden in einer Kreuzberger Altbauwohnung. Man wird als "die Münchner" vorgestellt. Vater, Mutter und zwei Kinder bekommen Stühle hingeschoben und die Frage, wie es denn so laufe unten im Süden. "Teuer, wa?" Man nickt und sagt: "Döner für dreifünfzig gibt es nur für Schüler zur Mittagszeit. Aber sonst alles gut."

Zentrale Anmeldung für Kitas
:Für Eltern wird es einfacher

Viele Eltern sind nicht nur vom Bangen um den Betreuungsplatz gestresst, sondern auch vom Anmeldemarathon davor. Der soll nun ein Ende haben. Die Stadt München führt 2015 eine zentrale Anmeldung für Kitas ein.

Von Melanie Staudinger

Alles gut? Man muss den Hauptstädtern ja nicht erzählen, wie schwierig es geworden ist im Süden. Wie eng es sich mittlerweile anfühlt in München. In wenigen Tagen wird die Stadt 1,5 Millionen Einwohner zählen, die brauchen Platz. München bietet Arbeit, aber wenig Wohnraum. Familien mit mehreren Kindern buhlen um Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnungen in Thalkirchen - an ein fünftes Zimmer für einen eigenen Schreibtisch oder Gäste wagt niemand zu denken. Die Kriterien: Wie weit ist es zu einer Kita oder zur Schule? Wo kriegt man überhaupt einen Betreuungsplatz und später die Zusage für eine Bläserklasse im Gymnasium? Kann die Tochter selbständig zum Fußball? Wo ist der geeignete Lehrer für den musisch begabten Sohn? Alles Fragen, die sich keineswegs um Lebensbedrohliches drehen. Aber doch um das Leben als Familie in einer Stadt mit einem Riesenangebot, was den Alltag nicht einfacher macht.

Wie beim Vorsprechen an der Falckenberg-Schule

Angebote an Kinderbetreuung gibt es, aber die wollen organisiert sein. Findet man Tageseltern in der Nähe, haben die leider auch keinen Garten. Im privaten Kindergarten, in der sich zwei Erwachsene um zehn Kinder kümmern, fühlt man sich wie beim Vorsprechen an der Falckenberg-Schule. Also lieber doch eine städtische Einrichtung, auf die man ja ein Anrecht hat? Und wer holt das Kind ab, wenn man es selbst nicht vor 18.30 Uhr nach Hause schafft? Wenn die Kita wegen Betriebsausflugs geschlossen bleibt? Oder wie jetzt wegen eines Streiks?

Kita-Streik
:"Die aktuelle Situation ist eine Katastrophe!"

Wenn Erzieher und Kinderpfleger streiken, müssen sich viele Eltern eine alternative Betreuung organisieren. Trotz des Stresses zeigen sie Verständnis für den Ausstand, nicht aber für die Arbeitgeber.

Dass nun unbefristet gestreikt wird, zeigt auf, wie störanfällig das System Familie ist. Erzieherinnen sollen ordentlich verdienen, daran zweifelt niemand. Sind sie es doch, die Eltern erst ermöglichen, sich anderweitig zu beschäftigen. Nur mit ihnen funktioniert eine moderne, arbeitsteilige Stadtgesellschaft. Sie sind ihre Säulen wie die Müllabfuhr, die Feuerwehrleute, die S-Bahn- und Zugfahrer, ohne die man erst gar nicht zu seinem Arbeitsplatz käme. Soziologen sagen, Familien bräuchten kurze Wege. Langes Pendeln zwischen Wohnort und Arbeitsplatz stehle ihnen Zeit. Aber nicht jeder hat die Wahl. Manchmal ist es die Firma, die an den Stadtrand oder noch weiter weg zieht, während man selbst noch in Neuhausen wohnt. Manchmal ist es das Bedürfnis nach etwas Ruhe am Abend, das einen in den Vorort bringt.Ruhe aber ist etwas, woran es eigentlich in allen Familien mangelt. Viel liegt da an den eigenen Ansprüchen, manches an den Rahmenbedingungen.

Zentrales Thema in München ist Wohnen

Zentrales Thema in München ist immer noch das Wohnen. Wer in ein anderes Viertel zieht, löst nicht selten das soziale Netz von Babysittern, Nachbarn und Lebensphasen-Freunden auf, ohne das Eltern kaum existieren können. Besonders diejenigen, die nicht auf die Hilfe von Großeltern bauen können. Also verharren viele dort, wo sie schon zu zweit gewohnt haben, ziehen Rigips-Wände ein, um zusätzliche Zimmer zu gestalten. Wagen sie doch den Sprung in die Veränderung, belasten sie sich meist mit einer viel höheren Miete oder knebeln sich mit Zinstilgungen für Eigentum. Die Immobilienpreise in München sind in nur einem Jahr um 11 Prozent gestiegen. Auch wenn einen das selbst gerade nicht betrifft, zur innerlichen Entspannung tragen solche Meldungen nicht bei. Ein Panik-Gefühl will aufsteigen: Wie soll das weitergehen?

Aber war es jemals einfach, als Familie zu leben? Die eigene Münchner Mutter sagt: Nein. Nur habe man früher nicht so viel darüber nachgedacht. Wahrscheinlich haben sich die Eltern auch nicht so sehr unter Druck gefühlt. Kam ein Kind, blieb die Mutter zu Hause, die kreierte keine Dinosaurier-Kuchen zum Kindergeburtstag, wie sie heute erwartet werden, sondern backte einen Guglhupf. Was der Vater verdiente, reichte irgendwie aus. Man war Mittelklasse und fuhr Mittelklasse: einmal im Jahr nach Italien und zum Skifahren an den Hausberg nach Österreich. Die restlichen Ferien verbrachten die Kinder mit den Nachbarn auf den Wiesen bei der Siedlung. Ein Sprachkurs in Amerika kam einem erst gar nicht in den Sinn.

Auf den Wiesen stehen längst Häuser, doch ziehen dort keine Kinderhorden mehr umher. Kinder verbringen ihre durchorganisierte Freizeit in Horten, in Kreativkursen oder allein vor Spielkonsolen. Sechsjährige nehmen den Schlüssel so selbstverständlich mit wie das Smartphone. Das Schimpfwort "Schlüsselkind" ist dieser Generation fremd.

Kinderbetreuung
:Vom sozialistischen Makel zum Fördermodell

Die Erzieherinnen streiken, Eltern im ganzen Land sind betroffen. So logisch dieser Zusammenhang heute ist, so umstritten war die Kinderbetreuung noch vor wenigen Jahren. Die Zeitenwende in der deutschen Familienpolitik in Zitaten.

Von Dorothea Grass

Nicht nur das hat sich geändert. Von nur einem Gehalt will und kann kaum eine Familie in München leben. Jedenfalls nicht mit dem Standard, der heute Mittelklasse ist. Aus dem österreichischen Hausberg hat sich eine Skischaukel mit 30 Liften entwickelt, für die man entsprechend zahlen muss. Und weil die Sommer so unbeständig sind, fährt man am besten zu Pfingsten und im August ans Meer. Mindestens nach Südfrankreich, was sollen die Kinder sonst dagegen halten, wenn der Banknachbar von seinem Tauchausflug in der Karibik erzählt?

"Teuer, wa?" Ja! Der Bauernhof im Vorschuljahr, die Geschenke für die Klassenlehrer, das Trainingslager im Fußballverein, die Trikots und Stollenschuhe, überhaupt die vielen Kinderklamotten - das alles verschlingt Unsummen, die nicht jeder aufbringen kann. "Es kommen viel mehr Familien als früher zu uns", sagt Thorsten Sowa, Sprecher des H-Teams in Sendling. Der Verein hilft seit 25 Jahren Bürgern in Not, die Schuldnerberatung ist eine seiner wesentlichen Aufgaben geworden. Die Ansprüche überfordern viele Familien finanziell. Etwa zwei Monate müsse man inzwischen auf einen Termin warten, sagt Sowa. Noch vor ein paar Jahren gab es kaum Wartezeiten. Und wer mit Kindern von Grundsicherung lebt, hat es in einer Stadt wie München immer schwerer. Die Ausgaben steigen, die Hartz-IV-Sätze nicht.

Nur zwei Gutverdiener können sich den Münchner Standard leisten

Eigentlich nur wenn zwei gut ausgebildete Eltern verdienen, ist finanzierbar, was zum Münchner Standard gehört. Ob eine Frau berufstätig ist oder nicht, ist aber eigentlich keine Frage des Geldes. Die Rollenbilder haben sich grundlegend verändert: Eine Familien ernähren zu können, damit kann sich kein Mann mehr brüsten. Was zählt, ist die Länge seiner Elternzeit und dass er weiß, welches Buch die Tochter gerade liest. Seine Frau definiert sich nicht über den Glanz der Fenster, sondern über die Arbeit außerhalb des Haushaltes. Nach einer Studie des Bundesinstituts für Familienforschung denken 91 Prozent der Frauen und 92 Prozent der Männer, dass sich beide Eltern um die Kinderbetreuung kümmern sollten. Double Income, zwei, drei Kids heißt heute das Ideal. Das ist machbar, aber nur wenn nichts dazwischen kommt. Wenn alle gesund sind - man selbst, die eigenen Eltern und die Kinder. Und wenn möglichst die Beziehung hält.

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in diesem Land immer noch ein Traum, schrieb die Spiegel-Autorin Claudia Voigt in ihrem Essay "Die große Erschöpfung". Das Leben berufstätiger Eltern sei überfrachtet mit Ansprüchen an sich selbst. Im Job wollten sie nicht hinter Kollegen ohne Kinder zurück stehen, eine Aufgabe ablehnen, mit der Begründung, der Kindergarten habe gerade geschlossen. Eine Paradelösung gibt es nicht. In flexibleren Angeboten für Teilzeit-Arbeit oder Home-Office liegen Chancen für Familien. Immerhin: Seit acht Jahren steigt die Geburtenrate in München und die neue Stadtregierung plant die "größte Schulbau-Offensive Europas". Am Ende aber bleibt das Familienleben ein mehr oder weniger glückliches Abenteuer.

© SZ vom 16.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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