Prozess am Landgericht:Ein Jahrzehnt Missbrauch

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Seit 2006 soll sich ein heute 60-Jähriger an der Tochter seiner Lebensgefährtin vergangen haben. Im vorigen Jahr wurde er festgenommen, vor Gericht schweigt er zu den Vorwürfen.

Von Andreas Salch, Ebersberg

Was in der Kontaktanzeige seiner späteren Lebensgefährtin stand, daran kann sich der Angeklagte, ein 60-jähriger Informatiker, noch genau erinnern: "Suche jemanden mit Herz, der mit mir spazieren gehen, schmusen und kuscheln will." Die beiden wurden ein Paar und lebten von 2005 an zehn Jahre lang in einer gemeinsamen Wohnung im Landkreis. Von 2006 an soll der Informatiker die Tochter, die seine Lebensgefährtin mit in die Beziehung brachte, 357 Mal sexuell missbraucht haben. Seit diesem Dienstag muss sich der 60-Jährige für die mutmaßlichen Übergriffe vor der 1. Jugendstrafkammer am Landgericht München II verantworten.

Bei der Verlesung der Anklage durch die Vertreterin der Staatsanwaltschaft errötete der Informatiker zusehends. Mitunter schüttelte er den Kopf. Manchmal schloss er die Augen. Es dauerte bis die Anklage verlesen war. Beim ersten mutmaßlichen sexuellen Übergriff soll das Mädchen gerade mal sechs Jahre alt gewesen sein. Das letzte Mal soll sich der Informatiker entweder im Januar oder Februar vergangenen Jahres an der damals inzwischen 14-Jährigen vergangenen haben.

Der Angeklagte schweigt zu den Vorwürfen

Ob er Angaben zu den Vorwürfen machen wolle, fragt schließlich die Vorsitzende Richterin, Regina Holstein, den grauhaarigen Mann, der von ihr aus gesehen schräg links vor ihr aus auf der Anklagebank sitzt. Seine Antwort lautete: "Ich sag gar nix."

Erst Anfang vorigen Jahres soll das mutmaßliche Opfer einer Freundin anvertraut haben, dass sie von ihrem Stiefvater seit Jahren regelmäßig sexuell zum Teil schwer missbraucht werde. Daraufhin gingen die Mädchen zu ihrem Schulleiter und erzählten auch ihm, was angeblich vorgefallen sein soll. Der Pädagoge erstatte Anzeige. Der Informatiker wurde daraufhin von der Polizei in der Wohnung, in der er mit seiner Partnerin lebte, festgenommen und kam in Untersuchungshaft. Nach neun Monaten kam er wieder frei.

Der Haftbefehl wurde auf Antrag der Verteidigung außer Vollzug gesetzt. Die Staatsanwaltschaft legte umgehend Beschwerde vor dem Oberlandesgericht München ein. Doch es blieb bei der Aufhebung des Haftbefehls und so kam der Informatiker an diesem Dienstag in Begleitung seiner beiden Verteidiger Alexander Stolberg-Stolberg und Hellmut Hack freien Fußes in das Münchner Strafjustizzentrum an der Nymphenburger Straße. Als Fotoreporter den Angeklagten fotografieren, leiht einer der Verteidiger dem Informatiker sein Jackett, um sich darunter verbergen zu können.

Übergriffe fanden statt, wenn die Mutter arbeitete

Zu den angeblichen sexuellen Übergriffen auf das Mädchen soll es immer dann gekommen sein, wenn dessen Mutter bei der Arbeit war. Die Frau ist Fachverkäuferin. Von 2006, dem Zeitpunkt des ersten mutmaßlichen sexuellen Übergriffs, bis Anfang vorigen Jahres, als sich der Informatiker zuletzt an dem Kind vergangen haben soll, will die 50-Jährige nie etwas bemerkt haben. Stattgefunden haben sollen die angeblichen Übergriffe entweder im Wohnzimmer auf dem Sofa, im Kinderzimmer des Mädchens oder aber im "elterlichen Schlafzimmer", wie es in der Anklage der Staatsanwaltschaft heißt. Mitunter soll sich der 60-Jährige bis zu fünf Mal pro Monat an dem Mädchen sexuell vergangen haben.

Den Ermittlungen zufolge soll das Kind nicht einmal im Urlaub vor seinem Stiefvater sicher gewesen sein. Als es mit seiner Mutter und dem Angeklagten 2014 in Thailand und später in Ägypten Urlaub machte, soll es ebenfalls zu Missbräuchen gekommen sein. Und zwar in dem selben Zimmer, in dem die Mutter währenddessen schlief.

Das Verhältnis zum Angeklagten sei sehr gut gewesen

Die Mutter des Mädchens sagte bei ihrer Vernehmung, sie habe den "Angeklagten" als "ganz netten Menschen kennengelernt." Ihre Tochter habe er von Anfang an "akzeptiert". Sie habe "Papa" zu ihm gesagt. "Sie hat ihn geliebt als Papa", so die 50-Jährige. Das Verhältnis zum "Angeklagten", so die Fachverkäuferin sei "sehr gut" gewesen. "Wir haben nie gestritten, wir haben ein schönes Leben geführt." Ob es irgendwelche Besonderheiten in der Beziehung gegeben habe, will Richterin Holstein wissen. "Dass er verheiratet war und sich nicht scheiden lassen wollte", antwortete die Mutter. Dies hatte der Informatiker bei seiner Vernehmung zuvor auch so gesagt und sich damit prompt ein weiteres Strafverfahren eingehandelt.

Denn nach der Trennung von seiner ersten Frau, mit der zwei Töchter hat, bestand die Ehe nur noch auf dem Papier fort. So habe er weniger Steuern bezahlen müssen, bekannte der Informatiker freimütig. "Das ist noch nicht verjährt", erwiderte Richterin Holstein. Von diesem Augenblick an wägte der 60-Jährige genau ab, was er sagte. Irgendwelche Hobbys, fragte die Richterin. "Kunstturnen", lautete die Antwort des Informatikers. Er habe Mädchen im Alter zwischen vier und zwanzig Jahren trainiert. Später auch kleine Buben. Der Prozess dauert an.

© SZ vom 11.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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