Dachau:Ein Apfel am Tag

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Als sie 15 war, war sie etwas pummelig und hatte keine Freunde. Also beschloss Katja Schlosser abzunehmen. Am Ende wog sie nur noch 37 Kilo. Bei der Dachauer Beratungsstelle "bite" fand sie Hilfe.

Anna Schultes

Zehn Jahre ist Katja Schlosser ( Name geändert) alt, als sie aus den USA nach Deutschland kommt. "Hier kam sehr viel auf mich zu: Ein anderes Schulsystem, und ich hatte noch keine Freunde." In den USA, wo die heute 29-Jährige aufgewachsen ist, war sie eine sehr gute Schülerin. Am Gymnasium sacken die Leistungen ab, das Mädchen wechselt an die Hauptschule. Hinzu kommt noch ein ganz anderes Problem: "Ich war dicker als es hier normal ist. Deshalb wurde ich gehänselt."

In der Pubertät hält sie es nicht mehr aus und fasst mit 15 Jahren einen Entschluss: "Jetzt zeige ich es euch." - "Dann ging es sehr schnell", erinnert sich die 29-Jährige. Während einer Freizeitfahrt über den Sommer nimmt das Mädchen in drei Wochen die ersten acht Kilo ab, innerhalb eines Jahres verliert sie insgesamt 25 Kilo. "Irgendwann habe ich nur noch einen Apfel am Tag gegessen", erzählt Schlosser, "und den am Ende auch noch weggelassen." Vier bis fünf Stunden geht sie täglich joggen, fährt mit den Rollerblades oder trainiert auf dem Stepper - Tag und Nacht. Mit 16 Jahren wiegt das Mädchen bei einer Größe von 1,66 Metern noch 37 Kilo. Dann stellen sie ihre Eltern vor die Entscheidung: "Entweder du weist dich selbst in eine Klinik ein oder wir machen das."

Als Katja Schlosser freiwillig in eine Klinik geht, leidet sie bereits an einer weiteren Essstörung: Bulimie.

In einer Zeitschrift hatte sie von Lady Di gelesen, die an der Krankheit litt. "Da habe ich mir gedacht: Wenn eine Prinzessin das macht, kann ich das auch." Das Mädchen tut alles, um die Ess-Brech-Sucht vor ihren Eltern zu verheimlichen. Nach den Essanfällen sucht sie Toiletten in Restaurants auf. Sie hat immer eine Tüte in ihrem Zimmer. Damit sie niemand hört, dreht sie die Musik laut auf und versteckt die Tüte mit dem Erbrochenen in ihrem Kleiderschrank. Erst in der Klinik geht es in kleinen Schritten bergauf.

Nach ihrem Klinikaufenthalt vor mehr als zehn Jahren wird Schlosser ambulant behandelt. Auf eine Pause folgen zwei weitere Therapieversuche.

Seit zwei Jahren ist Schlosser in der integrierten Versorgung der Beratungsstelle im Therapienetz Essstörung "bite". Regelmäßig bekommt sie eine E-Mail, wird gefragt, wie die aktuelle Situation ist. "Es ist gut zu wissen, dass jemand da ist." Sie kann Tag und Nacht dort anrufen. Betroffenen Angehörigen rät sie, so schnell wie möglich eine Beratungsstelle aufzusuchen. Ihre eigenen Eltern seien hilflos, wütend und traurig gewesen, hätten lange nicht gewusst, wie sie mit ihr umgehen sollen.

Schlosser spricht reflektiert über ihre Krankheit, als hätte sie alles im Griff. Heute kann die 29-Jährige mit Freunden am Tisch sitzen und essen. Sobald sie unter Druck steht, drehen sich die Gedanken aber wieder um Essen. "Das wird für mich immer so sein", sagt sie, "wie bei einem trockenen Alkoholiker." Aber Schlosser sieht das Positive: "Man wird stark, weil man gezwungen ist, hinzusehen, wo viele wegsehen. Man muss sich mit sich selbst auseinandersetzen." Die Krankheit sei ein Hilfeschrei des Körpers, dass mit der Seele etwas nicht stimme.

Katja Schlosser hat einen Wunsch: "Ich möchte nichts mehr als ein ganz normales, gesundes Leben - und kein Gefängnis aus Kalorien."

© SZ vom 28.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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