Ampeln:Sind in München die roten Wellen geplant?

Ulrich Schäpe, Chefampelplaner für München

Uli Schäpe plant Münchens Verkehr. Foto: Florian Peljak

In München spekulieren Bürger schon lange über die völlig unsinnig erscheinende Schaltung der Ampeln. Chefampelplaner Uli Schäpe weiß mehr darüber.

Von Philipp Crone

"Ich kann auf die meisten Ampeln in München zugreifen", sagt Uli Schäpe. Was er allerdings nicht kann: jede einzelne Ampel vom Computer aus auf grün oder rot schalten. Wäre natürlich eine feine Sache für den Weg nach Hause von der Implerstraße. Aber was er kann: dem Anwohner oder Verkehrsteilnehmer erklären, warum eine Ampel so leuchtet, wie sie eben leuchtet. Der 45-Jährige ist derjenige, der vielleicht mehr gegen stressbedingte Magengeschwüre unternehmen kann als jeder Arzt der Stadt.

Schäpe, ein gemütlicher Mann mit kantiger Brille und Spaß an deutschen Fachbegriffen wie etwa "Festzeitanlage", was ihm ein lang festsitzendes Grinsen ins Gesicht drückt, sitzt an einem sonnigen Vormittag im zweiten Stock an der Implerstraße 9 bei gekipptem Fenster an seinem Computer und klickt sich durch die Menüpunkte seines Ampelprogramms.

Von draußen hört man das Ergebnis seiner Arbeit und der seines 40-köpfigen Teams von der Verkehrssteuerung: anfahrende und abbremsende Autos, ab und an ein Hupen, Fahrradklingeln, Motorengrollen im Stand. Schäpe zitiert eine der vielen Beschwerdemails. "Also es geht um die Ampel am Deutschen Museum auf der Seite des Pestalozzi-Gymnasiums, Eduard-Schmid-Straße trifft auf die Schweigerstraße, und hier soll man also als Autofahrer sehr, sehr lange warten müssen?"

Das Lächeln hat sich eingegraben, Schäpe hat einen Stadtplan aufgerufen, der wie Google Earth aussieht, allerdings mit allen eingezeichneten Ampeln der Stadt, die alle eine eigene Nummer haben. Reinzoomen, Nummer notieren, gleich hat er's.

In Schäpes Büro hängt eine handballtorgroße Karte der Stadt, mit einem grünen dicken Stift einmal durchtrennt. Für den Westen ist ein Kollege zuständig, für den Osten und den Stadtkern Schäpe, der Mann aus Neustadt. "Ich wollte schon immer in die Großstadt", sagt er. Erst studierte er Bauingenieur, dann Verkehrsingenieur, 1999 bewarb er sich auf eine Stelle bei der Stadt München. 18 Jahre ist er jetzt in der Ampelabteilung, die natürlich offiziell nicht so heißt. Ampeln heißen eigentlich Signalanlagen und die Abteilung ist die für Verkehr. Aber, wenn man so will, ist Schäpe Münchens oberstes Ampelmännchen. Grinsen.

Graue Vierecke stapeln sich auf dem Computerbildschirm, gerade ist Schäpe bei der Maske mit der Uhrzeit angekommen. "21 Uhr, oder?" Ein Diagramm erscheint, mit roten Balken, das sind die Rot-Phasen der Ampel von vor vier Tagen, manche sind länger, aber meistens sind sie gleich lang, 50 Sekunden.

Zweite-Reihe-Parker sind der natürliche Feind des Ampelplaners

Nur wenn der Bus kommt, bekommt der Vorfahrt und das Rot verlängert sich für die Wartenden an der Eduard-Schmid-Straße - "Stadtratsbeschluss, dass der ÖPNV im besten Fall nur bei Haltestellen anhalten soll". Es handelt sich in diesem Fall um eine verkehrsabhängige Anlage, im normalen Deutsch der Planer ist das "eine schlaue", im Gegensatz zu einer dummen, einer Festzeitanlage eben, die einfach nur nach Software die Lampen von Rot auf Grün und wieder zurück schaltet.

Die schlaue Anlage erkennt, ob Autos kommen oder nicht. In der Eduard-Schmid-Straße erkennt die Ampel das über in den Bodenbelag eingelassene Detektoren. Schäpe ruft Google Maps auf und lässt das kleine orangene Männchen auf die Kreuzung fallen, in der Street-View-Ansicht sind auf der Fahrbahn dunkle Quadrate auf grauem Asphalt zu sehen, die Detektoren. "Die registrieren jedes Fahrzeug, auch ein Fahrrad." So lange es aus Metall ist.

Wenn Metall über den Detektor fährt, eine Helmholtz-Schleife, egal ob Auto, Roller oder Fahrrad, registriert der Ampelcomputer eine Spannungsänderung und merkt sich: Aha, Auto. In diesem Fall: in der Nebenstraße, der Eduard-Schmid-Straße. Dann bekommt die relativ bald grün. Wenn keine Autos kommen, kann es bei einer schlauen Ampel "theoretisch passieren, dass sie eine Woche rot oder grün bleibt".

Die Schleifen im Boden können auch erkennen, ob das Auto über einen Detektor gefahren oder darauf stehen geblieben ist. Und da bis zu drei Schleifen in einer Fahrbahn platziert werden, eine direkt vor der Ampel, eine ein paar Meter weiter hinten und eine zum Beispiel 30 Meter von der Ampel entfernt, kann das System auch erkennen, ob sich der Verkehr an der Ampel staut, und dann die Grünphase verlängern.

"Wenn jetzt natürlich einer in zweiter Reihe auf der Schleife einfach nur so stehen bleibt, funktioniert das System nicht mehr", sagt Schäpe. Er sagt es mit der Gleichgültigkeit eines Realisten, der weiß, dass er niemals alles berechnen kann, was auf der Straße passiert. Zweite-Reihe-Parker, die Warnblinker, wie er sie nennt, sind der natürliche Feind des Ampelplaners. Und er weiß natürlich auch, dass viele nicht 50 fahren, wenn 50 da steht, und dass Autofahrer vor einer grünen Ampel beschleunigen, Grün zieht, so nennt er das. Aber daran kann er nichts ändern.

Schäpe ist ein Perfektionist des Unperfekten. Er sagt: "Wenn die Leute wissen, warum eine Ampel so geschaltet ist, wie sie geschaltet ist, dann sind sie gleich sehr viel entspannter." Wissen, warum man warten muss, oder es nicht zu wissen - das ist ein sehr großer Unterschied. Einer zwischen Magengeschwür und Nicht-Magengeschwür.

Die Verschwörungsvermutung von absichtlichen Roten Wellen

Ulrich Schäpe, Chefampelplaner für München

Nostalgie in Schäpes Büro: Eine Heuer-Ampel mittig, die in der Mitte der Straße stand, während der Zeiger sich gleichmäßig weiter drehte, und abwechselnd den sich kreuzenden Richtungen rot und grün zeigte. Da konnte man auch erkennen, wie lange die jeweilige Phase noch dauert.

(Foto: Florian Peljak)

Wenn Schäpe es mit einer komplexen Ampelanlage zu tun hat wie zum Beispiel der am Isartor, wo es Dutzende verschiedene Möglichkeiten gibt, wie Fahrzeuge aufeinandertreffen, Trambahnen, die verschieden abbiegen, dann wühlt er sich durch 160 PDF-Seiten und im Zweifel schreibt er die auch, wenn er so eine Anlage neu plant - der Reiz des An-alles-Denkens.

Als Schäpe an diesem Frühsommertag eine halbe Stunde später aus seinem Büro geht und sich die Ampelanlage an der Pocci-Straße ansieht, läuft da ein zufriedener Mann über den Bürgersteig. Einer, der sich sicher ist: Der Verkehr fließt, so gut es nur geht in dieser Stadt. Und dass es Stau gibt, dafür gibt es viele Gründe, für die Schäpe aber in den allerwenigsten Fällen etwas kann.

Und wenn, dann wird er darauf aufmerksam gemacht, rechnet eine Ampel neu und gibt das Ergebnis an das Baureferat weiter, wo dann die Ampel neu programmiert wird. "Das kommt schon vor, wenn zum Beispiel in der Nähe eine neue Kindertagesstätte eröffnet, und wir das noch nicht wissen, dann muss man eben die Ampel anpassen."

Manche vermuten, dass der Stau in der Stadt auch daher kommt, weil absichtlich Rote Wellen eingeplant werden. "Das ist total falsch", sagt er. Das würde in der Praxis dazu führen, dass Autofahrer sich andere Wege suchen würden, etwa durch 30er-Zonen. Dann hätte man mehr Verkehr vor Schulen und Kindergärten, was niemand will. Entschiedenes Kopfschütteln.

Aber solche Verschwörungsvermutungen entstehen eben immer dann, wenn man nicht Bescheid weiß über die Ampelplanungen. Bis zu 50 Mails bekommen sie jede Woche, mit Hinweisen und Beschwerden von Anwohnern. Das heißt jedes Mal: rausgehen, anschauen, antworten. Meistens mit einer freundlichen Erklärung, warum die Ampel so schon gut geplant ist (siehe Beispiele).

Los geht es bei einer Ampelplanung immer mit einer Ortsbegehung. Müsste Schäpe zum Beispiel an der Poccistraße eine Ampel-Anlage in Betrieb nehmen, dann würde er sich zunächst einmal dort hinstellen und einfach Autos zählen, Radfahrer, Fußgänger, was halt so vorbeikommt, zu allen Zeiten.

"Das Mindestgrün für ein Auto sind fünf Sekunden"

Und dann hat er Zahlen und versucht, alle Verkehrsteilnehmer in einen 90-Sekunden-Zyklus zu kriegen. "Unser Ziel ist es immer, dass an einer Ampel jeder Verkehrsteilnehmer in 90 Sekunden einmal mit grün bedient wird." Deshalb ist das Gefühl des Radfahrers an der Eduard-Schmid-Straße, lange warten zu müssen, eben nur subjektiv und falsch. 50 Sekunden sind üblich. Beschwerde abgelehnt.

Wenn Schäpe seine Daten hat, rechnet er. Wie lange muss eine Grünphase sein, damit weder an der Ampel noch dahinter und vor der nächsten Kreuzung Stau entsteht? Die einfachste Variante ist eine Straße, an der eine Fußgängerschutzanlage steht, also auf Deutsch eine Fußgängerampel.

Autos fahren in zwei Richtungen, Fußgänger gehen in zwei Richtungen über die Straße, vier Verkehrsflüsse. "Das Mindestgrün für ein Auto sind fünf Sekunden." Und die Planer gehen von einer Gehgeschwindigkeit der Fußgänger von 1,2 Metern pro Sekunde aus, es sei denn, man befindet sich an einem Altenheim oder an einem Friedhof.

Schäpe fragt: Wie viele Autos fahren nachts? Kann man die Ampelanlage auf Warnblinklicht schalten, damit die Wartezeit bei wenigen Fahrzeugen minimal ist? In welche Richtung fahren die Leute morgens, in welche eher abends? Vom Planungsreferat bekommt er Verkehrszahlen, von der Polizei Unfallzahlen. Entstehen in der Nähe neue Wohnungen? Wie beeinflusst das zu welcher Uhrzeit den Verkehr?

"Wenn ich einem Verkehrsteilnehmer mehr grün gebe, kommen auch relativ bald mehr Verkehrsteilnehmer über diese Strecke." Schäpe überlegt, ob er es an einer Ampel auch mit einem 70-Sekunden-Umlauf schafft, dass nirgendwo Stau beim Anstehen und Abfließen des Verkehrs entsteht, "damit die Fußgänger weniger warten müssen". Die bekommen auch ein Mindestgrün. "Der Fußgänger soll immer drei Viertel der Strecke bei Grün gehen können, ehe es auf Rot springt."

Und dann bleibt die Auto-Ampel noch einmal 1,2 Sekunden mal der Straßenbreite in Metern rot. "Ist die Fahrbahn elf Meter breit, dauert es vom Rot der Fußgänger-Ampel bis zum Grün für die Autos 10 Sekunden." Denn ein Fußgänger, der in der letzten Grünsekunde noch den Fuß auf die Fahrbahn setzt, soll sicher rüberkommen.

"Autofahrer sind eindeutig ungeduldiger geworden"

Ulrich Schäpe, Chefampelplaner für München

Ulrich Schäpe, Chefampelplaner für München, am Rechner.

(Foto: Florian Peljak)

Ampelanlagen werden alle 20 Jahre ausgetauscht, und in solchen Fällen wird immer geprüft: Braucht man die Ampel überhaupt noch? "Pro Jahr bauen wir 15 bis 20 Ampeln ab, weil man besser einen Zebrastreifen, eine Verengung oder eine Verkehrsinsel einrichten kann zum Beispiel." Oder es genügen Zebrastreifen oder eine Parknase, um den Verkehr zu beruhigen.

Oder es gehen an einer Kreuzung die Unfallzahlen hoch. In so einem Fall gibt es eine Ortsbegehung mit Vertretern der Unfallkommission, Baureferat, Polizei, Verkehrs-Referat, Gartenbauamt. Man überlegt zusammen. Sind es zu viele Schilder? Sind Signale nicht eindeutig, weil man eine Ampel verwechselt? Ist ein Signal schwer einsehbar? Allerdings sind 20 bis 30 Prozent der Unfälle unvermeidbare Unfälle. "Da kann ich planen, wie ich will, wenn einer auf sein Handy schaut oder betrunken ist, kann man nichts machen."

Alle zwei Jahre muss jede Strecke in der Stadt überprüft werden. Sind die Markierungen noch sichtbar? Gibt es bauliche Veränderungen? Sind die Schilder mit Aufklebern unleserlich geworden? Solche Dinge. Und Schäpe muss auf Veranstaltungen reagieren. Kino auf dem Königsplatz? Wie muss man die Ampeln umprogrammieren, damit möglichst wenig Fahrzeuge in die Sackgasse vor den Propyläen fahren in der Zeit?

"Oder gerade mussten wir eine Ampel versetzen, weil der Aerosmith-Lkw nicht vorbeikam." Zur Wiesn muss dann zum Beispiel auch Dia 051 zugedeckt werden, der Rechtsabbiegerpfeil am Bavaria-Ring, wenn man von der Poccistraße kommt. Denn der Bavaria-Ring ist dann ja gesperrt, also braucht es auch keinen Rechtsabbiegerpfeil. Schäpe ordnet an, ein Mitarbeiter stülpt der Ampel einen Sack über.

Schäpe hat auf einer Karte seinen Lieblingsbegriff gefunden: "Straßenbegleitgrün", also die Rasenfläche zwischen Straße und Bürgersteig. "Geil!" Grinsen.

Es gibt also keine einzige Ampel in München, über die man sich aufregen kann? "Doch! Wenn man nicht weiß, warum sie so schaltet. Aber es gibt praktisch immer einen Grund." 20 000 Einwohner hat München pro Jahr mehr, also kommen einige Tausend Autos zu den 700 000 vorhandenen jährlich hinzu. Schäpe muss immer wieder anpassen, "aber wenn wir die Leute nicht in die öffentlichen Verkehrsmittel und aufs Rad kriegen, bekommen wir ein Problem".

"Es gibt Momente, in denen alle rot haben"

Und er merke ja selbst, was sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat, "die Autofahrer sind eindeutig ungeduldiger geworden". Das sei ja auch klar, bei immer mehr Verkehrsteilnehmern. "Es wird viel gehupt." Die Unfallzahlen wegen Ablenkung durch Handys und Navis gehen hoch. Dass etwa ein Auto auf gerader Strecke von der Straße abkomme, habe es früher selten gegeben, das ist Handy-bedingt.

Und dann ist es ja an der Ampel auch immer so: "Es gibt Momente, in denen alle rot haben." Das mag ja keiner. "Das liegt daran, dass Verkehrsteilnehmer ja erst noch die Straße verlassen müssen, bevor die anderen Grün bekommen."

"Wir wollen den Autofahrern Verantwortung zurückgeben", sagt Schäpe. Man soll sich nicht hinter Signalanlagen verstecken, im übertragenen Sinn. Denn klar ist auch, wie die Leute über Ampeln denken. "Verkehr ist wie Fußball: Jeder weiß, wie es besser geht." Manchmal nervt das dann auch. Am Wochenende fährt er aufs Land, zu Frau und den beiden Kindern, "das ist ein Ort, der nur vier Ampeln hat".

Schäpe steht an der Kreuzung Poccistraße, er öffnet den Ampelkasten, diesen beigen Schrank am Straßenrand, vollgestopft mit Elektronik, prüft die Software, schaut auf die Straße und sagt: "Gleich wird die Fußgängerampel grün", in deren Richtung rollt gerade ein Bus an.

Die nächsten 50 Jahre werde man sicher noch mit Ampeln leben müssen, sagt er, dann schaut er eine Weile auf die Kreuzung. Radfahrer, Fußgänger, abbiegende Autos. Alles geht ineinander über und seinen Gang. "Eines ist bei allem Verkehr ja entscheidend", sagt Schäpe, eine Ampel solle den Verkehr schon auch flüssiger machen, "aber in erster Linie sicherer."

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