TV-Kritik: Germany's Next Topmodel:Die Vermessung der Heidi

Lesezeit: 5 min

Schwesternküsse, Schlafzimmerblick und spätrömische Zustände: Das ist Germany's Next Topmodel. Ein Länderbericht aus Heidiland 2010.

Franziska Seng

"Afghanistan ist nicht Heidiland", meinte kürzlich der CDU-Abgeordnete Armin Schuster vor dem Bundestag klarstellen zu müssen. Das ist, zumindest für eingefleischte Pro-Sieben-Zuschauer, eine überflüssige Information. Denn es gibt - zum Glück - wenige Szenarien, die im Heidiland von Germany's next Topmodel (GNT) weniger vorstellbar wären als posende Mädels in Burkas.

Trotzdem stellt das junge, erst fünf Staffeln alte Machtgebilde made by Heidi Klum eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dar. Scharen junger, zum Teil gut ausgebildeter und des Deutschen mächtiger Nachwuchskräfte wandern ab, pilgern an die Pforten Heidilands. Über 2000 Mädels mit dem Lebensziel "Topmodel" waren am Donnerstagabend auf Pro Sieben zu sehen, die um Einlass in die glamouröse Glamourwelt kämpften - so viele wie nie zuvor bei einem GNT-Casting.

Die Mädels fühlen sich angesprochen von den Lehren der Model-Mama. Sie predigt Sekundärtugenden (Disziplin! Professionalität! Mehr Leistung!), mit denen man auch 30 Schlecker-Filialen leiten könnte.

In den vagen Heilsversprechen der Model-Mama (Fashion Week, Editorial Posing, Versandhauskatalog) sehen sie eine Alternative zum drögen Ernährungswissenschaftenstudium oder dem Job bei Schlecker, sodass sie Heimat, Freunden und Familie den Rücken kehren.

In Regierungskreisen ist das Problem erkannt, die weitere Vorgehensweise jedoch strittig. Mehrere Strategien - diplomatische Verhandlungen forcieren, humanitäre Zwangsernährung einleiten (Roger Willemsen würde sechs Sorten Torte spenden) oder gewaltsam einmarschieren - stehen zur Debatte. Um in der Zukunft kein Desaster zu provozieren, wurde von Experten ein "Länderbericht Heidiland" erstellt, der sueddeutsche.de vorliegt und aus dem wir hier erstmalig Auszüge veröffentlichen.

Länderbericht Heidiland

(...)

Hauptstädte: Los Angeles - Bergisch Gladbach - New York

Staatsform: Pseudo-Matriarchat. Forschungskreise glauben unter dem Deckmantel der Alma-Model-Mater Züge einer rigiden Militärdiktatur zu erahnen: Eine Fachzeitschrift identifizierte die Staatsgründerin als "kaltschnäuzige Scharführerin" und verlieh ihr den Titel "Pascha des Monats" (siehe EMMA - Das politische Magazin von Frauen. Jg. 22, Heft 3/2009.).

Regierungsform: Erinnert an die römische Kaiserzeit. Der Autokratin und Kaiserin sind - pro forma - zwei hochdekorierte Konsuln beigestellt, zwischen denen sie als prima inter pares erscheint. Die Konsuln wirken/sind professionell und/oder sehen gut aus, sind jedoch den Urteilen der Kaiserin gegenüber machtlos. Wie ihre antiken Vorgänger, die zum Amtsantritt Gladiatorenkämpfe, Seeschlachten oder Wagenrennen auszurichten hatten, werden die Konsuln mit öffentlichkeitswirksamen Aufgaben betraut: Sie organisieren Challenges wie Wet-Bikini- und Unterwasser-Shootings oder Begegungen mit exotischen und/oder ekligen Tieren (Krokodil, Vogelspinne, Elefant). Außerdem rapportieren sie der Kaiserin, falls sie nicht im Lande ist.

Die Amtszeit der Konsuln obliegt Heidis Gutdünken. In dieser Staffel lösen Fashion-Fotograf Kristian Schuller und Marketing-Experte Qualid "Q" Ladraa den Booker Peyman Amin und Casting-Direktor Rolf Schneider ab, wodurch sich die Jury deutlich verjüngt. Kristian Schuller ist ein ambitionierter Fotograf, der zunächst "rein intellektuell" Bedenken an einer Mitarbeit bei GNT 2010 geäußert hatte. Nun hat er es sich zur Aufgabe gemacht, dem drohenden Brain-Drain der Show entgegenzusteuern. Ob allein seine giganteske Ironie-Brille den gewünschten Effekt, das Eindringen von GNT in Berliner Ironie-Salons haben wird, bleibt abzuwarten.

Der begabte Qualid "Q" Ladraa hingegen, der es in seinem jungen Leben bereits geschafft hat, den Arschgeweihen der Nullerjahre - Fashion Items by "Ed Hardy" - zu einem weltweiten Triumph zu verhelfen, scheint die undankbare Rolle von Heidis Boy Toy zugeschanzt bekommen zu haben. In der ersten Folge pries sie ihn als "super süß" und "super niedlich" an und befahl ihm, sich von einer Stuntfrau verprügeln zu lassen. Diese Rolle ist seiner unwürdig. Eine giganteske Ironie-Brille, die seinen sogar Kritikerinnen total entwaffnenden Schlafzimmerblick kaschieren würde, könnte die Rettung für ihn sein.

Landeshymne: Wechselt aus Vermarktungsgründen mit jeder Staffel. Der aktuelle Song Fight for this Love von Cheryl Cole reflektiert besonders deutlich die kampfbetonte Orientierung der jungen Nation.

Geographie: Heidiland ist geprägt vom dichten Nebeneinander höchst unterschiedlicher Natur- und Lebensräume. Neuankömmlinge stranden zunächst im Nichts einer öden Mehrzweckhalle, von dem aus es sich in angenehmere Gefilde hochzurackern heißt. Das Wege-Netz in Heidiland besteht jedoch nicht aus typisch deutschen, romantischen Wanderwegen oder bequemen Autobahnen, sondern schmalen, zugigen Catwalks, wo die Einbürgerungwilligen auf sich allein gestellt sind. Alle Wege und Sehnsüchte führen zur Modelvilla, irgendwo im Süden.

Viele scheitern an diesem Traum. Sie ersaufen auf dem Weg im "Meer der Eitelkeiten", stürzen in die "Gletscherspalte der falsch dosierten Arroganz" oder zerschellen am "Kap der überzogenen Hoffnung".

Geologie: Beißproben haben ergeben: Ganz Heidiland besteht aus Granit. Mit dem beliebten Merksatz "Bergisch-Gladbacher Waldschrat, Quark und Glitzerglimmer / will ich vergessen für immer, immer" lässt sich das leicht merken.

Gewässer: Heidiland verfügt über keine eigenen Wasserressourcen. Dieser natürliche Mangel wird über die Tränenkanäle der Mädels ausgeglichen.

Klima: Extrem.

Bodenschätze: Mädels, Mädels, Mädels. Gut, eigentlich verfügt Heidiland über keine Bodenschätze. Der permanente Zustrom an langbeinigen Luisas, Larissas und Lauras führt jedoch zu dem Eindruck, dass sie, ebenso wie alabasterhäutige Annas und Adelinas, dort wie Binsen aus dem Boden sprießen. Sie stellen die Basis für die Prosperität Heidilands dar.

Wirtschaft und Industrie: Siehe Bodenschätze. Zusätzlich zum Mädel-Handel werden auch konsequent neue Einnahmequellen aufgetan und erschlossen (siehe Landeshymne).

Rechtswesen: Simpel und so, dass es jeder versteht. Es gilt Paragraph eins: Mama Heidi hat einfach immer recht.

Währung: Einzig anerkannter Wert und existentielle Daseinsberechtigung bedeutet im Heidiland das "Foto". Je mehr gute Fotos in der Mappe, desto bessere Chancen hat das Mädel beim Kunden. Verheerend ist es, wenn sich ein Mädel bei den Challenges kein ansehnliches Foto erarbeiten kann. Stellt in Bertolt Brechts fiktiver Wüstenstadt Mahagonny "Mangel an Geld" ein Kapitalverbrechen dar, so bedeutet "kein Foto" in Heidiland die unverzügliche Ausweisung, womöglich sogar noch vor dem Abendessen!

Alltag: Der Alltag in Heidiland ist entbehrungsreich. "Da haben wir knallhart Feldbetten aufgeschlagen", kommentiert die Model-Mama die spartanisch gelöste Unterbringung ihrer Mädels in der Mehrzweckhalle. "I'm in the Army now", reflektierte eine Teilnehmerin in der ersten Sendung ihre Situation. Dabei ist sie nicht zimperlich, ist sie doch Miss Russia 2009 und extra aus Moskau angereist.

Zittern und Bangen stehen auf der Tagesordnung. Regelmäßig wird aussortiert. Der Wunsch "irgendwie weiter, wenigstens in die nächste Runde zu kommen", hängt wie eine grummelnde Quellwolke über den Häuptern, die sonnig und fröhlich wirken sollen. Für ihren Traum geben sie alles. Unterziehen sich zum Beispiel in einer Mehrzweckhallenecke einer Notoperation, um ein kritisiertes Piercing zu entfernen. "Ich würde alles machen, bloß keine Tiere essen", sagt eine Teilnehmerin.

Religion: Offiziell scheinen alle Fäden in der Hand der weltlichen Sonnengöttin Heidi zusammenzulaufen. Unklar ist, über welche Macht der Göttinenvater verfügt, der von sich behauptet, er würde sich manchmal als "Zuchtbulle" fühlen. Gefürchtet ist er für seine Blitze, die er in Form plastikversiegelter Droh- und Abmahnbriefe verschleudert. Sein Name: Günther.

Sitten und Bräuche: Als Erkennungsgruß hat Heidi den Schwesternkuss kultiviert, der von ihr bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit zelebriert wird. Überschwenglich wird dabei in/auf Luft/Bruder/Schwester/Kameralinse geschmatzt, womöglich sogar in simulierter Zeitlupe und lautlicher Untermalung (Mmmmwaaa!). Das ist ausgesprochen eklig und verursacht Schüttelkrämpfe. Hat aber für die Schmallippige den Vorteil, dass es von ihrer zofenhaften Ausstrahlung ablenkt.

Staatsziel: Momentan befindet sich Heidiland im Stadium aggressiver Expansion. Unklar ist, wie viel Terrain und menschliche Ressourcen sich die Fürstin noch einverleiben will. Nicht auszuschließen ist das beunruhigende Szenario eines US-Systemtheoretikers, der in seinem Erstlingswerk das Leben in einer Wüstenstadt beschreibt, die den Umrissen Jayne Mansfields nachgebildet ist. Um eine Umdekorierung der deutschen Landkarte zu einem dümmlich grinsenden Territorialstaat mit den plumpen Modelmaßen Heidi Klums zu verhindern, sollte allen Günthers der Handel mit Grundstücken und Immobilien untersagt werden. (vgl. dazu David Foster Wallace: Der Besen im System. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2004. S. 9-624).

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: