Türkisches Tagebuch (IV):"Die Verhaftungswellen hören nicht auf"

Journalisten, die sorgfältig recherchieren, fürchten in der Türkei um ihre berufliche Existenz - oder werden gleich verhaftet. Unabhängige Berichterstattung wird Tag für Tag schwieriger.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Jedem rational denkenden Journalisten in der Türkei ist eines klar. Wenn "die Demokratie gewonnen hat", wie Präsident Erdoğan behauptet, dann gibt es keinen Zweifel, was von Seiten der Regierung nach einem schändlichen Putschversuch unternommen werden muss: Diejenigen, die den Putsch geplant und durchgeführt haben, müssen konsequent verfolgt werden.

Türkisches Tagebuch

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Alex Rühle.

Alle rational denkenden, unabhängigen Journalisten in der Türkei sind aber zutiefst besorgt, wie unglaublich hart jetzt durchgegriffen wird. Sie stellen die richtigen Fragen: Was hat der Haftbefehl gegen ein Viertel aller Richter, was die Entlassung von 60 000 Beamten mit dem Aufstand eines Teils der Armee zu tun? Warum hat es die Regierung so eilig, 1600 Universitätsdekane sofort auf die Straße zu setzen? Und wie sind die letzten Berichte zu erklären, wonach mehr als 4000 Akademiker entlassen werden sollen? Diese und viele ähnliche Fragen, die man zu diesem bizarren Putschversuch stellen müsste, werden leider in den Massenmedien nicht gestellt. Und die wenigen kleinen Medien, die noch kritischen Journalismus machen, werden der Reihe nach abgeschaltet und geschlossen. Inklusive Verhaftungen.

Seit Mittwoch erscheint etwa Özgür Düşünce nicht mehr. Das war eine Tageszeitung, die einige der besten liberalen Kolumnisten der Türkei beschäftigte. Bis zuletzt kämpften sie für eine demokratische Grundordnung und die Redefreiheit. Das Blatt hat lange schon unter großem finanziellen und juristischen Druck gestanden und wurde jetzt zur Schließung gezwungen. Glauben Sie mir, dass diese Stimme zum Schweigen gebracht wurde, bedeutet: Der Raum für abweichende Meinungen ist sehr viel kleiner geworden. Diese Journalisten werden keine Geschichten mehr unterbringen in den Medien, die noch bleiben - ebenso wenig wie all die Kollegen, die für unabhängige Webseiten gearbeitet haben. Im Gegenteil, man wird sie behandeln wie Ausgestoßene, wie Paria, was im Ergebnis einem Berufsverbot gleicht.

Freie, mutige Berichterstattung beschränkt sich auf eine Handvoll Zeitungen

Die Verhaftungswellen hören nicht auf. Am Mittwoch wurde die Tagezeitung Meydan durchsucht. Der offizielle Vorwurf: Meydan sei der verlängerte Arm einer terroristischen Vereinigung. Der Chefredakteur Levent Kenez und der Geschäftsführer Gülizar Baki wurden verhaftet. Die beiden stehen sinnbildlich für sorgfältigen Journalismus. Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, glauben, der Grund sei, dass sie auf ihren Titelseiten Fragen über den Putschversuch gestellt haben.

Der jetzt verhängte Ausnahmezustand ermächtigt den Staat, Publikationen nach Gutdünken zu verbieten. Freie, mutige Berichterstattung beschränkt sich mittlerweile auf eine Handvoll Zeitungen (Cumhuriyet, Birgün, Özgür Gündem, Evrensel) und wenige Seiten im Netz (T 24, Diken, Bianet). Im Fernsehen gibt es eigentlich gar keine kritischen Berichte mehr. Wir alle wissen, wie widerstandsfähig Journalismus ist. Aber je mehr Widerstand geleistet wird, um diesen Beruf zu verteidigen, desto härter werden die Gegenmaßnahmen ausfallen. Alle Zeichen sprechen für einen "Gegenputsch". Man muss auf das Allerschlimmste gefasst sein.

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