Türkisches Tagebuch (III):"Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun"

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Massenentlassungen, Reiseverbote, zensierte Medien in der Türkei - und während unser Autor all das aufschreibt, erfährt er von der Schließung seiner eigenen Zeitung.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Von Anfang an gab es bei uns die Angst, dass der blutige Putschversuch, der der ohnehin schon verkrüppelten Demokratie in der Türkei den Todesstoß versetzen sollte, eine Art Hebamme für einen Putsch von oben sein könnte. Alle Maßnahmen, die seither getroffen wurden, alle restriktiven Sanktionen der AKP-Regierung, sprechen dafür, dass diese Angst völlig berechtigt war.

Ich selbst habe seit Anfang 2014 solch ein schreckliches Szenario für möglich gehalten. Damals schrieb ich für die deutsche Ausgabe von Le Monde Diplomatique einen Text mit dem Titel "Putsch in Zeitlupe". Darin zog ich Vergleiche zu Alberto Fujimori, Perus ehemaligem Präsidenten (1990-2000), der mittlerweile im Gefängnis sitzt. Dass der völlig inakzeptable, verachtenswerte Putschversuch als Vorwand dafür genommen wird, den türkischen Staat in atemberaubender Geschwindigkeit durch angebliche Reformen schachmatt zu setzen, untermauert leider meine damalige Theorie. Wir haben es mit massiven "Säuberungen" zu tun.

Jetzt sind auch die Akademiker dran. Der Chef des Obersten Hochschulrats (YÖK), einer Behörde, die nach den Erfahrungen des Militärputsches von 1980 eigentlich als schützende Institution ins Leben gerufen wurde, rief alle Universitätspräsidenten zu einer Notfallsitzung zusammen. Direkt danach gab die YÖK die Entlassung von 1577 Dekanen und Professoren im ganzen Land bekannt und hat allen Universitätslehrkräften und Wissenschaftlern Dienstreisen ins Ausland verboten. Außerdem haben sie alle türkischen Akademiker, die gerade im Ausland forschen oder lehren, in die Türkei zurückbeordert.

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Die Medien werden immer weiter stranguliert

Dann ist da das Wikileaks-Drama. Die Enthüllungsplattform hat fast 300 000 Mails samt Anhängen ins Netz gestellt, die angeblich alle aus Mailboxen der AKP stammen. Die Mails wurden zwischen 2010 und 2016 geschrieben. Nach wenigen Stunden war der Zugang zu Wikileaks gesperrt. Später war zu lesen, dass die Server unter Dauerbeschuss gestanden haben, seit Wikileaks die Veröffentlichung der Mails angekündigt hat.

Und die Medien werden immer weiter stranguliert. Innerhalb der letzten 48 Stunden wurden rund 20 News-Seiten von der Staatlichen Aufsicht für Informations- und Kommunikations-Technologie TIB abgeschaltet, die TIB wurde zuvor per Gesetz dazu ermächtigt. Die offizielle Begründung lautet jeweils "Verbindung zur FETÖ" ( Abk. für Fethullah-Gülen-Terör-Örgütü, also FG-Terror-Organisation, ein von Erdogan 2014 erfundener Begriff, Anm. d. Red.). Mit derselben Begründung wurde Dienstagnacht 24 Radio- und Fernsehstationen die Sendelizenz entzogen. Und das Büro des Premierministers kündigte an, dass 34 Journalisten ihre Presseausweise abgenommen werden.

Philippe Leruth, der Präsident der International Federation of Journalists, sprach von "eklatanten Verletzungen der Pressefreiheit und der Menschenrechte" und sagte, es werde "immer noch mehr Verhaftungen und Zensur geben".

Eine Gesellschaft in Geiselhaft

Alle Journalisten, die mit unabhängigen Medien zu tun haben, müssen davon ausgehen, dass sich die Bedingungen für ihre Arbeit wohl weiter verschlechtern werden. Wenn Erdoğans Regierung sich dazu entschlossen hat, weiter in Richtung Staatsstreich von oben zu gehen, und die außergewöhnlichen Umstände dafür zu nutzen, skrupellos kurzen Prozess zu machen mit allen abweichenden Meinungen und jeglicher Opposition, ist diese Annahme plausibel. Die gesamte Zivilgesellschaft fühlt sich, als sei sie in Folge des blutigen Putschversuchs, der die Türkei um Jahrzehnte zurückgeworfen hat, in Geiselhaft genommen worden.

Soeben erfahre ich, dass Özgür Düşünce, die linksliberale Zeitung, für die ich regelmäßig schreibe, ebenfalls geschlossen wird. Das Drama geht weiter.

© SZ vom 21.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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