Nico Semsrott:Der Ernstwähler

Nico Semsrott

Wer in den vergangenen eineinhalb Jahren nicht im Internet war: Semsrott ist der Typ mit dem schwarzen Hoodie.

(Foto: Andreas Hopfgarten)

Nico Semsrott war erst depressiv und dann einer der wichtigsten Satiriker des Landes. Jetzt macht er Politik. Und die beängstigende Frage lautet: Warum fühlt es sich an, als sollte man ihn wählen?

Porträt von Jakob Biazza

Die verfluchte Depression muss ja doch irgendwo auftauchen, da kann man auch gleich mit ihr anfangen. Ganz versteht man diesen Nico Semsrott nicht ohne. Nicht ohne das Vegetieren im Bett, tagelang. Nicht ohne die Suche nach einem Grund aufzustehen - ein Praktikum zum Beispiel, bei dem man dann am ersten Tag aber schon innerlich kündigt. Und auch nicht ohne die Suizidgedanken. Keine ganz konkreten Pläne wohl. Aber falls es doch so weit wäre, dann soll es bitte schon funktionieren.

"Von Schusswaffe ist da abzuraten", sagt Semsrott. Neun von zehn Versuchen gehen schief. "Das Tragische ist: Zug wäre die mit Abstand aussichtsreichste Variante." Aber der arme Lokführer. Also Therapie. Viele Jahre lang. Und da dann aber die Überraschung: nicht mal Medikamente. "Der Therapeut hat mich offenbar nicht als schwer suizidal eingeschätzt." Selbst beim Depressiv-Sein keine Spitzenleistung gebracht. Kurze Kunstpause.

Und dann lacht Nico Semsrott plötzlich. Es ist ein explosives Lachen. Die Mimik wird heftig gestaucht dabei, was nun direkt schwer überfordert, weil er ja sonst, also wenn er auf der Bühne steht, wirkt wie ein schon sehr lange sehr tief in sich selbst zurückgezogener IT-Administrator, den sie nach ein paar Stunden des Bäuchlingstreibens aus der Alster gezogen haben.

Wenn der 31-Jährige, wie gerade, in einem Café im Hamburger Schanzenviertel sitzt, sieht er sehr anders aus. Er hat dann etwas Farbe im Gesicht und den Versuch eines Fünftagebarts, der nicht sehr beeindruckt. Die Rote Flora ist nur ein paar Meter entfernt und der G-20-Gipfel nur noch ein paar Tage. Draußen auf den Straßen verdichtet sich die Energie immer deutlicher zu dem Sturm, der bald durch Hamburg fegen wird. Drinnen ist es aber noch auf diese träge Art schanzengemütlich.

Ein falsches Lachen, heißt es, erkennt man daran, dass die Augen nicht mitlachen. Die Mundwinkel gehen nach oben, die Partien, die direkt an die Stirn anschließen, bleiben unbewegt. Bei Semsrott fängt das Lachen um die Augen herum an und reißt die Wangen dann mit nach oben. Kinder sehen so aus, wenn sie sich sehr freuen.

Die Dämonen vom Leib halten

Wer in den vergangenen eineinhalb Jahren nicht im Internet war: Semsrott ist der Typ mit dem schwarzen Hoodie. Aktueller Hauptberuf: Kabarettist. Oder Satiriker. Satiriker klingt zeitgemäßer. Kabarettisten sind ja Leute, denen jahrzehntelang nur noch Oberstudienräte und SPD-Mitglieder zugehört haben. Über Nico Semsrott hat sogar die schwer zu beeindruckende Vice mal getitelt: "Dieser P(o)etry-Slammer zerlegt die AfD besser als Jennifer Rostock." Vor Kurzem hat die Washington Post über Semsrott geschrieben: "Mit demselben düsteren Humor, mit dem er die Rechtsaußenpartei und ihre fatalistischen Prognosen einer islamischen Übernahme verspottet, hält er sich auch seine eigenen Dämonen vom Leib."

In dem AfD-Zerleger-Video steht die in eine schwarze Kapuze gehüllte Alster-Leiche da und sagt mit ihrem leicht kehligen Leidens-Singsang Sätze wie: "Das ist das Spannungsfeld, in dem AfD-Wähler sich bewegen: Einerseits sind sie arm dran, andererseits sind sie schlechte Menschen." Oder: "Die rechte Logik geht so: 'Mir geht's nicht so gut, woran könnte das denn liegen? Ah, vermutlich an den Leuten, die gerade erst kommen.'"

Es gibt gerade nicht viele deutsche Humoristen, die den Wahnsinn unserer Zeit pointierter analysieren als dieser Nico Semsrott. Und es ist ein durchaus besonderes Vergnügen zu sehen, wie sich das Lachen wieder in sein Gesicht fräst, wenn man ihm das sagt. Auch das geht ja: ehrlich aus Verlegenheit lachen. Und Superlative sind schließlich etwas, das Menschen dringend verlegen machen sollte.

Gerade, wenn sie erfolgreich sind. Wer bei der Heute-Show über Oliver Welkes O-beinige Stand-up-Moderationen hinauskommt, kann Semsrott schließlich inzwischen auch regelmäßig im Fernsehen sehen. Öffentlich-rechtlich, Hauptprogramm. In Deutschland ist das quasi das Größte, was du als Kabarettist erreichen kannst - und die Heute-Show noch mal der Superlativ im Superlativ. Mehr als vier Millionen Menschen schalten sie manchmal ein. Die Humorbeauftragten des Landes und vor allem die, die das gern wären, würden einen Lungenflügel spenden, um in die Sendung eingeladen zu werden.

"Komm so oft, wie du es schaffst", hat die Redaktion zu Semsrott gesagt. Aber er schafft es nicht oft. Er hält den Druck nicht gut aus. Und noch etwas weniger die Zweifel, die jeder haben sollte, der Menschen - nicht nur im siebenstelligen Bereich, aber da besonders - erklären will, wie die Welt aussieht und wie sie aussehen sollte.

Irgendwas an Semsrott ist plötzlich anders. Zackiger, fokussierter.

Frage also: Wie sollte sie denn hier aussehen? Im Kleinen? Auf der Schanze, wo die irre große und irre verrückte Welt gerade einläuft? "Ich bin bei dem Thema einfach komplett überfordert, verloren, ohnmächtig." Die Organisatoren der G-20-Proteste hatten angefragt, ob er nicht auf der großen Kundgebung sprechen wolle. Semsrott wollte nicht. "Was soll ich denn da sagen? Ich verstehe diese unendlich komplexen Verflechtungen doch nicht. Jede Haltung, die ich da einnehmen könnte, hätte etwas Verschwörungstheoretisches."

Schwer vorstellbar, dass - nur zum Beispiel jetzt - Urban Priol solche Zweifel auch so äußern würde. Wahrscheinlich würde er mit einem seiner nachgeäfften Merkel-Sätze antworten. Damit lässt sich ja fast jedes Thema klären. Irgendwer muss schließlich immer schuld sein. Und zu viel Reflexion kann da sehr stören.

Semsrott hat auch mal nach einem Schuldigen gesucht. In einem Video zu "Polizeiwillkür in Deutschland", das er zusammen mit Journalisten von Correctiv gedreht hat. "Weil sie sich gegenseitig decken, wirst du verurteilt und die Polizisten kommen frei", sagt er da zum Beispiel. Zwischen ein paar ähnlich aktivistischen Verallgemeinerungen. Alle nur um Nuancen verkürzter, als er das sonst täte. Aber Satire ist eben Millimeterarbeit. Und weil auch Semsrott das weiß, fragt er von sich aus direkt: "Wie fandest du das?" Und ohne eine Antwort abzuwarten: "Ich find's problematisch." Eben ein Versuch, "mich mal einzuloggen beim Thema Haltung - soll man ja".

Also noch eine Chance:

Wer ist denn nun schuld am Schlechten in der Welt?

"Als Linker will ich natürlich sagen: der Kapitalismus!"

Und, ist er wirklich an allem schuld?

"Wahrscheinlich nicht." Kurze Kunstpause.

Und dann macht Nico Semsrott plötzlich Politik. Er ist Spitzenkandidat der Satirepartei Die Partei in Berlin. Slogan: "Ja zur Politik, nein zur Politik!" Zusatz: "Aus Gründen." Die Partei ist 2004 dem Satiremagazin Titanic entsprungen. Eines der neueren Plakatmotive: "Der Storch bringt die Kinder. Die Storch bringt sie um." Auf Semsrotts Plakaten steht über seinem bleichen Konterfei: "Wir geben der Krise ein Gesicht."

Meint er das ernst?

Die Plakate provozieren zwei Fragen - die eine sehr deutsch, die andere sehr verwirrend. Die sehr deutsche lautet: Meint der das ernst? Die verwirrende: Warum, zum Teufel, fühlt es sich so an, als sollte man ihn - ganz theoretisch natürlich nur, Gott bewahre - vielleicht tatsächlich wählen? Die erste Frage unterschätzt, was für eine brutal ernste Sache Lachen sein kann.

Denn der Spitzenkandidat hat ja auch noch diesen Wahlkampfspot veröffentlicht. Er liegt darin vor grauem Sichtbeton in einem flauschigen Bett - ausgerechnet - und fragt: "Liebe Nichtwähler, wenn's euch egal ist, wer im Bundestag sitzt, wäre es dann nicht schön, von jemandem vertreten zu werden, dem es egal ist, dass er im Bundestag sitzt?"

Und dann folgt diese so verteufelt unbemühte Animation, die zeigt, wie erst die FDP und dann die AfD unter die Fünfprozenthürde gedrückt würden, brächten nur genug Nichtwähler ihre zufriedenen Ärsche in ein Wahllokal. Grundkurs Politisches System, Thema Verhältniswahl. Greifbar gemacht in einem 90-Sekünder. Von einer Gaga-Partei. Rund 600 000 Views bislang. Christian Lindners FDP-Spot schaffte in derselben Zeit nicht mal ein Viertel. Bei der Vice legten sie nach und stellten fest, dass Die Partei "den bisher klügsten Wahlwerbespot veröffentlicht" hat. Die taz beschrieb Satire als "einzige ernstzunehmende Politik".

Der Spitzenkandidat ist ein paar Wochen später für solche Superlative immer noch nicht sehr empfänglich. Aber er sitzt doch irgendwie zufrieden in der Berliner Parteizentrale, einem Ladenbüro in einem Kreuzberger Altbau. Die Wut-Visage des Spitzenkandidaten Serdar Somuncu brüllt von einem riesigen Poster. Der Stuck fehlt an ein paar Stellen. Dafür liegt auf und neben den Schreibtischen viel herum: Pakete, Flyer, Zettel, die eher keiner Ordnung gehorchen. Das Plakatmotiv "Hier könnte ein Nazi hängen" haben sie irgendwann aus dem Schaufenster genommen. Zu viele Passanten kamen rein, um zu diskutieren, ob man das schreiben dürfe. Gerade waren nur zwei ältere Damen in Ausflugsgarderobe da, die sagen wollten, dass sie das alles hier "sehr spaßig" fänden. Nico Semsrott haben sie nicht erkannt.

Die Politik, heißt es, verändert die Menschen. Stimmt womöglich. Semsrott sieht zwar auch bei diesem erneuten Treffen immer noch so aus, wie er im Fernsehen nicht aussieht - die Farbe im Gesicht ist wieder da, der nicht sehr beeindruckende Bartversuch auch. Und er trägt wieder dieselben Schuhe, die ein bisschen schief abgelaufen sind, wie es öfter bei Menschen passiert, die mal eine Zeitlang nicht ganz gerade im Leben standen. Aber irgendwas an ihm ist auch anders. Zackiger, fokussierter. Gerader vielleicht auch. Die Antworten kommen etwas schneller. Und etwas eindeutiger. "Ich habe aus dem Feedback auf meine Kampagne gelernt, dass Inhalte gesucht werden, wenn sie ernst gemeint sind." Ein vernichtenderes Urteil über den deutschen Wahlkampf passt nicht in einen einzelnen Satz.

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