Oktoberfest:"Ihr haltet uns für Freiwild"

Oktoberfest: Eine Rosenverkäuferin - kein Mädchen für alle.

Eine Rosenverkäuferin - kein Mädchen für alle.

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Die Rosenverkäuferin Katrin wird auf der Wiesn ständig angemacht. Warum sie trotzdem manchmal ihre Telefonnummer oder sogar ihre Unterwäsche verkauft, erklärt sie in einer Folge von "Wie ich euch sehe".

Protokoll von Max Sprick

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Protagonisten unseres Alltags zu Wort: Menschen, denen wir täglich begegnen, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: eine Polizistin, ein Hausmeister, die Frau an der Supermarktkasse. Sie teilen uns mit, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Gäste, Mitmenschen. Diesmal erzählt die Rosenverkäuferin Katrin L. von ihren Erlebnissen auf der Wiesn, wo sie sich oft wie ein Lustobjekt fühlt.

Kurz nach dem Abi lief ich an einem Blumenladen vorbei, im Schaufenster hing ein Zettel, auf dem stand: "Rosenverkäufer für die Wiesn gesucht". Ich war 18, wollte nach Australien reisen und brauchte Geld. Also ging ich in den Laden und bewarb mich. Ich habe mir damals schon gedacht, dass der Job hart und anstrengend wird. Aber alles, was dazu kommt, habe ich unterschätzt. Jetzt, sieben Jahre später, weiß ich: Ihr Männer haltet uns Rosenverkäuferinnen für ein Lustobjekt, für Freiwild.

Dank der Wiesn, dank euch, habe ich den Glauben an den Großteil der Männerwelt verloren. In meinem ersten Jahr gab es zum Beispiel in einer Box auf dem Balkon einen Heiratsantrag. Das ganze Zelt war am Jubeln, die künftige Braut hatte gerade Ja gesagt, da kam ich an den Tisch, ich schnupperte das Geschäft meines Lebens. Und was macht der Bräutigam? Rennt auf mich zu, hebt mich hoch und haut mir voll auf den Hintern. Ein paar Sekunden nach seinem Heiratsantrag! Ihr denkt, ihr könntet mich anfassen, wie und wo ihr gerade wollt. Dass ich zum Arbeiten da bin, das seht ihr nie. Eure Frauen sitzen direkt neben euch und können oft nur zuschauen, wenn ihr mich anmacht. Und das tut ihr von Dienstbeginn bis Ende, von der ersten bis zur letzten Rose.

Ich arbeite auf Provision, von einer Rose, die 4,20 Euro kostet, bekomme ich 84 Cent. Im Schnitt verkaufe ich 150 Rosen pro Tag. Das meiste Geld verdiene ich durch euer Trinkgeld. Deswegen befeuere ich ein Stück weit euer Verhalten, das gebe ich zu. Sobald ich den Strauß Rosen in die Hand nehme, bin ich ein anderer Mensch, wie eine Schauspielerin gebe ich dann die lustige Rosenverkäuferin.

Die Sache mit der Wiesn ist die: Entweder man liebt sie oder man hasst sie. Und ich tue beides - leidenschaftlich.

Jede Wiesn beginnt für mich mit dem gleichen Gefühl. Menschenangst. Je näher der Anstich rückt, desto mehr hämmert sich ein Gedanke in mein Hirn: Du wirst niemals den Mut haben, wildfremde Menschen anzusprechen. Sie werden dich alle ignorieren, auslachen oder für verrückt erklären. Du wirst dieses Jahr keine einzige Rose verkaufen. Nicht eine einzige, wirklich niemand will auch nur eine halbe Rose von dir. Ganz ehrlich, wer gibt schon 4,20 Euro für eine Blume aus?

Aber die Wiesn ist eine andere Welt. Natürlich kostet da eine rote Blume so viel, natürlich wollen alle eine haben. Und natürlich schaffe ich das. Meine Angst legt sich, wenn ich in der Rosenkammer heimlich noch mal frühstücke, mein Wechselgeld zähle, meine Preisliste einstecke, mein Wimmerl umschnalle, die Schürze neu binde, noch einen letzten Blick in den Spiegel werfe: Ich habe nichts zwischen den Zähnen, Flechtfrisur sitzt, Lippenstift passt zu den Rosen. Jetzt kann es losgehen. Ich greife zu meinen Rosen, und dann legt sich der Schalter um: Ein Strauß Rosen macht einen anderen Menschen aus mir.

Was das bedeutet? Ich werde zu einem Menschen, der seine Unterwäsche verkauft. Immer wieder fragt ihr mich nach meinen Slips oder meinem BH . Anfangs wusste ich gar nicht, was ich da antworten soll, so schockiert war ich. Heute sage ich sofort: "Klar, was gibst du mir dafür?" Ihr solltet mal eure Gesichter sehen. Meist lauft ihr rot an und traut euch dann doch nicht. Für die paar von euch, die - warum auch immer - meine Unterwäsche wollen, habe ich stets ein zweites Paar in meiner Tasche. Frisch gewaschen natürlich. Wenn ihr dann wirklich 50 Euro dafür bezahlt, mache ich ein gutes Geschäft.

Ich finde mich beim Verkaufen unfassbar witzig, ich habe auf alles eine Antwort und lüge, dass sich die Zeltbalken biegen. Diese Stimmung kommt nur hier auf, also will ich sie genießen, so lange es geht.

Ich stehe dann auch drüber, wenn ihr mich fragt, ob ihr mir die gekaufte Rose aus dem Dekolleté ziehen dürft. Natürlich dürft ihr! Mir macht das nichts aus, kostet aber zehn Euro. Für 50 könnt ihr sie sogar mit dem Mund rausziehen. Ich tue das auch, um euch mit euren eigenen Waffen zu schlagen. Weil ich hoffe, dass ihr selbst merkt, wie daneben euer Verhalten ist.

"Du willst einen Discount? Ok, die Rose kostet 4,20 Euro, aber dir gebe ich sie für fünf. Ob ich dir meine Telefonnummer gebe? Klar, die kostet aber extra. Meine Unterhose? Du spinnst wohl, da musst du schon den ganzen Strauß kaufen. Macht dann bitte 84 Euro. Und 50 Euro noch für die Unterhose. Die Rose essen? Ja, mach doch. Die ist nicht nur fairtrade, sondern auch Bio. Ach, ich soll sie essen? Kein Problem, bin eh Vegetarier.'' Ich mache dieselben Sprüche so oft, dass ich mir selbst auf die Nerven gehe.

Männer, hört auf mit diesem Scheiß

Viele meiner Kolleginnen ertragen ihren Job nur, wenn sie sich währenddessen betrinken. Das würde ich nicht durchhalten. Ich setze auf seelische Unterstützung. Im Laufe der Jahre habe ich in der Wiesnbranche meine Freunde und die halbe Verwandtschaft untergebracht. Rosen lassen sich am besten im Schwarm verkaufen und geteiltes Leid ist halbes Leid. Trotzdem muss ich zwischendurch einfach mal ausrasten. Dann schreie ich mir die Seele aus dem Leib und heule, was meine Tränendrüsen hergeben.

Mir ist bewusst, dass auf der Wiesn eine stark sexualisierte Atmosphäre herrscht. Aber sobald ihr meine Rosen seht, scheinen bei euch auch alle Manieren und Sinne auf einmal auszusetzen. Ihr versteht nicht, dass ein Nein Nein heißt, dass es ist nicht ok ist, mir auf den Hintern zu hauen, oder mich sonst wo zu begrabschen. Oder irgendeine andere Frau auf der Wiesn sexuell zu belästigen. Männer, hört auf mit diesem Scheiß, und Mädels, wehrt euch! Holt zur Not Türsteher, lasst Männer rauswerfen, sprecht Umstehende an, oder haut einem Mann die Rosen um die Ohren, wenn ihr es für angemessen erachtet. Das ist durchaus so befriedigend wie es sich anhört. Ich erlebe es regelmäßig.

Wenn ich euch frage, warum ihr Männer euch so benehmt, bekomme ich immer dieselben blöden Sprüche zu hören: Ich sei ja nur am Geschäft interessiert und unterhalte mich mit euch nur, weil ich mir Geld davon erhoffe. Da dürftet ihr im Gegenzug doch auch mal ein bisschen flirten. Ja, was glaubt ihr denn? Natürlich bin ich nur am Geschäft interessiert! Na klar muss ich charmant sein, lachen, Scherze machen und ja, auch flirten - sonst verkaufe ich euch ja nichts. Aber meint ihr wirklich, ich würde mich zum Spaß so erniedrigen? Ich sehe das Geld - so wie die meisten der Leute, die auf der Wiesn arbeiten - und deswegen über vieles hinweg.

Und doch werde ich immer wehmütig, wenn sich die Wiesn ihrem Ende zuneigt. Denn es ist ja bei weitem nicht alles schlecht an ihr. Ich erlebe viele nette Gäste und tolle Momente. Menschen, die sich wirklich und aufrichtig über eine Rose freuen, Stammkunden, die es gar nicht abwarten können, mich wieder zu sehen. Touristen, die noch nie auf der Wiesn waren und vor lauter Kulturschock mit großen Augen aus Prinzip eine Rose kaufen, frisch Verliebte, die sich ohne mich niemals getraut hätten, sich anzusprechen. Minderjährige Bubis, die ihrer ersten Freundin ganz stolz eine Rose schenken, Frauen, die ihren Männern eine Rose schenken. Ja die gibt es wirklich, und die Männer freuen sich darüber. Menschen, die eine Rose von mir kaufen, weil sie mir ansehen, wie hart mein Job ist. Und auch Menschen, die einfach ,"Nein Danke"' sagen, wenn sie keine Rosen wollen. Und Menschen, die mich zum Lachen bringen, auf eine originelle, frische Art.

Und dann kommt irgendwann der Moment, da stehe ich auf einmal im Zelt, habe meine letzte Rose verkauft und weiß nicht genau, wie ich mich fühlen soll. Ich steche nicht mehr aus der Masse, ich habe keine Aufgabe mehr, kein Schutzschild, keine Legitimation für mein teils absurdes Verhalten, keine Daseinsberechtigung. Ich fühle mich erschreckend nackt und muss das Erlebte der vergangenen zwei Wochen verdauen. Der letzte Song wird gespielt. Alle fallen sich in die Arme und das Zelt leert sich erschreckend schnell. Wir machen unsere letzte Abrechnung und ich weiß ganz genau, einen Tag länger würde ich nicht durchhalten.

Am nächsten Tag bin ich vollkommen positiv überrascht, wie seltsam sich Leute in der Realität verhalten. Ohne Rosenstrauß in meiner Hand sind alle ganz zurückhaltend und zuvorkommend und beachten mich gar nicht, oder wollen sich wirklich ernsthaft mit mir unterhalten. Ich bin dazu aber noch überhaupt nicht bereit und stelle mal wieder fest, was für eine wunderbare Realitätsflucht die Wiesn ist. Vielleicht mache ich den Job nächstes Jahr doch noch mal. Dann aber wirklich zum letzten Mal. Oder, nein, ich sollte es wirklich lassen. Ich hatte es mir vor der Wiesn doch geschworen, dieses Mal ist das letzte Mal. Aber hatte ich das im Jahr davor nicht auch gesagt? Und in dem davor nicht auch?

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung Ihrer Situation per E-Mail an: violetta.simon@SZ.de. Wir melden uns.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

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