Homophobie im türkischen Fußball:Grobes Foul

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Halil Dincdag war ein beliebter Schiedsrichter und Radiomoderator in der Türkei. Bis er sich outete. Jetzt wird er wie ein Aussätziger behandelt und hat fast alles verloren.

Kai Strittmatter

Der Ball ist das eine, die Pfeife das andere. Du läufst aufs Feld. Saugst den Duft des Rasens ein. Der junge Mann im Café schließt kurz die Augen, tut so, als fächere er ihn sich zu, den Stadiongeruch. Links elf Mann, die mit den Hufen scharren, rechts elf Mann, und Du mittendrin. Der Boss. Du sagst an. Du bremst. Du passt auf, dass sie sich an die Regeln halten.

Ist eigens vom Schwarzen Meer nach Istanbul gezogen, um nicht mehr diskriminiert zu werden: Halil Ibrahim Dincdag. (Foto: N/A)

Die tobenden Zuschauer, die schnaubenden Spieler. "Ein Riesenspaß", sagt der Mann und lächelt. "Du hältst sie alle am Zügel." Was braucht einer, um ein guter Schiedsrichter zu sein? Durchblick, Mut, Rückgrat, Geistesgegenwart, Gerechtigkeitssinn, natürliche Autorität? Wahrscheinlich. Eine Frau im Bett? Eher nicht.

Der Tag, der das Leben des Halil Ibrahim Dincdag, Radiomoderator und Hobby-Schiedsrichter aus der Stadt Trabzon am Schwarzen Meer, veränderte, war der 13. Mai 2009. Bis dahin hatte er das, was er selbst ein glückliches Leben nennt. Freunde, Erfolg, Spaß. Beim Lokalsender "Bayrak FM" (auf Deutsch: Flagge FM) produzierte und moderierte er seit zwölf Jahren eine tägliche Nachrichtensendung.

In seiner Freizeit streifte er sich das Schiedsrichterhemd über und pfiff Spiele in der Amateurliga, drei, vier, fünf Mal die Woche. Dincdag steckte der Fußball schon als Kind in den Knochen. Er träumte damals: Profispieler wollte er werden, oder Fußballreporter im Radio. Bis er 19 war, spielte er selbst, meist im Mittelfeld, dann verletzte er sich, und entdeckte die Lust am Schiedsrichtersein.

Schiedsrichter sind in der Türkei so beliebt wie anderswo. Das im Chor gegrölte "Schwuler Schiri" ist auch hier eine der gängigsten Beschimpfungen. "Da lache ich bloß", sagt Dincdag. In seinem Kopf habe er immer dieses Bild: Der Schiedsrichter auf dem Feld ist der Löwe im Käfig. Um den Käfig herum streichen die aufgeregten Kätzchen, fauchen und kreischen. Aber was kratzt das schon den Löwen. "Irgendwann haben sich die Kätzchen müde gefaucht und zerstreuen sich."

Schwuler Schiri. Wieso ist das eigentlich eine Beleidigung? Halil Ibrahim Dincdag ist einer, ein schwuler Schiri. Das heißt: Er war einer. Bis die anderen herausfanden, dass er schwul ist.

Das war kurz nach seiner Musterung. Dincdag wollte nicht zur Armee. Kriegsdienstverweigerung gibt es nicht in der soldatenstolzen Türkei. Aber das Militär hat hier einen Grundsatz: Schwule sollen draußen bleiben. Dazu muss ein Militärarzt die Homosexualität des Rekruten belegen. Manchmal machen sich die Ärzte einen Spaß daraus und verlangen Fotos vom Geschlechtsverkehr. Dincdag blieb das erspart. Er bekam sein Attest nach zehn Tagen in einer psychiatrischen Klinik, für das türkische Militär ist Homosexualität noch immer eine "psychosoziale Störung". Immerhin: Dincdag wurde vom Militärdienst freigestellt.

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Die eigentliche Überraschung erlebte er, als er die Erneuerung seiner Schiedsrichterlizenz beantragte. Der Verband entzog ihm die Lizenz. Dincdag war konsterniert: Weshalb? Die Antwort: Wer aus gesundheitlichen Gründen keinen Militärdienst leiste, der dürfe auch nicht Schiedsrichter sein.

Dincdag versuchte, zu erklären, wandte sich an die Zentrale des Fußballverbandes in Istanbul, legte ein gesundheitliches Attest vor und jene Dokumente, die belegten, dass er nicht wegen einer Krankheit, sondern wegen seiner Homosexualität nicht eingezogen wurde. Er verlangte seine Lizenz wieder.

Zwei Tage später tauchten seine privaten Unterlagen in der nationalen Presse auf. Zeitungen schrieben, TV-Sender berichteten. Es war der 13. Mai 2009. Zuerst ohne Nennung seines Namens. Dann mit seinen Initialen. Dincdag war zutiefst erschrocken. "Aber die Presse war auf meiner Spur." Er trat die Flucht nach vorn an, ließ sich einladen zur Sportsendung "Tele Gol". Zuerst sahen die Zuschauer sein Gesicht nur verpixelt, dann, während der Sendung, sagte Dincdag, er wolle sich nun zeigen. Seither kennt die Türkei das Gesicht und den Namen des schwulen Schiedsrichters, der um seine Rechte kämpft. Seither ist nichts mehr so, wie es vorher war.

Er verlor die Schiedsrichterlizenz. Die Hälfte seiner Freunde. Und seine Arbeit. Die Beschäftigung homosexueller Mitarbeiter sei "nicht vereinbar mit unserer Senderpolitik", erklärten die Verantwortlichen von Bayrak FM in einer öffentlichen Erklärung, aus der Dincdag erfuhr, dass er nach zwölf Jahren Arbeit für den Sender gefeuert wurde.

Er erhielt Drohungen: "Du hast die Ehre der Schwarzmeerküste beschmutzt." Sie reden viel von Ehre, dort, am Schwarzen Meer, wo es nicht weniger Schwule gibt als anderswo, wo sie aber allesamt den braven Ehemann spielen. "Was hatte sich eigentlich geändert?", fragt Dincdag: "Ich war doch noch immer derselbe."

Fast keinem seiner Freunde, keinem seiner Verwandten hatte Dincdag je erzählt von seiner Homosexualität. Sie alle erfuhren es gemeinsam mit der Nation. Dincdag erfuhr, dass es unter seinen Freunden auch die andere Hälfte gab, die, die ihm den Rücken stärkten. Es gab die Medien, die sich für ihn einsetzten. Es gab die konservativen Eltern, einfache Arbeiter, die zuerst Angst hatten, sie würden ihn verlieren, die jedoch von Anfang an zu ihm standen: Egal, was passiert, du bist unser Sohn.

Die kleine Schwester, 27 Jahre alt, die islamische Theologie studiert und die heute seine beste Freundin ist: "Sie sagt, alles was Gott geschaffen hat, ist gut." Seine Arbeit hat ihm das alles bis heute nicht zurückgebracht. Er bewarb sich zuletzt bei Cafés, die Kellner, und in Läden, die Verkäufer suchten, aber sein Gesicht ist bekannt, die Antwort war stets die gleiche: Tut uns leid. Im Februar ist er nach Istanbul gezogen. Hier ist mehr Freiheit, hier ziehen die Schwulen und Lesben einmal im Jahr am Christopher-Street-Day durchs Herz der Stadt, hier gibt es Vereine wie Lambda, die ihm einen Anwalt vermittelten.

Seine neue Email-Adresse fängt an mit "hayatbenimki": "Das Leben ist meins". Dincdag hat den Fußballverband nun verklagt. "Ich wollte das nicht", sagt er, "aber bis heute habe ich nicht einmal eine ordentliche Antwort auf meine Anträge bekommen." Der Verband spielt über Bande, der Vizevorsitzende erklärte im Fernsehen, Dincdag sei "ein zweitklassiger Schiedsrichter ohne Talent". Die nächste Verhandlung ist Ende Mai. Dincdag sagt, er wolle nichts als sein Recht. Wenn der Prozess Signalwirkung habe, umso besser.

Auch im Fußball hat Dincdag Unterstützer gefunden. Der Chef der nationalen Schiedsrichtervereinigung, Dursun Cumali, fand deutliche Worte: "Man hat unseren Freund Halil seiner Rechte beraubt." Und Mitglieder von Carsi, dem schräg-anarchischen Fanclub des Istanbuler Clubs Besiktas, enthüllten im Stadion ein Banner, auf dem zu lesen war: "Lieber schwule Schiris als Drecksäcke von Schiris."

Gut geht es Dincdag nicht im Moment. "Zwei Jahre schon, und noch immer nichts in Sicht", sagt er. Einen Traum hat er noch heute: Einmal ein Süper-Lig-Spiel zu pfeifen. Klar, meint er, habe Fußball etwas mit Männlichkeit zu tun. Er richtet sich auf: "Und ich bin ein Mann."

© SZ vom 14.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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