Hässlichkeit in den Städten:Ansichtssachen

Wenn wir die Unwirtlichkeit der Städte beklagen, geht es fast immer um Brücken, Hochhäuser oder Bahnhöfe. Warum eigentlich nicht um Briefkästen und Balkone? Ein Streifzug durch den Terror des Alltags.

Gerhard Matzig

Frau A. geht an diesem Sonntag in Stuttgart zur Wahl, um alles und jeden gegen den geplanten neuen Bahnhof zu unterstützen. Architektur ist jetzt Politik. Frau A. sorgt sich vor allem um die Sinnhaftigkeit, um Baukosten und Bäume. Aber auch um die Qualität des öffentlichen Raumes. Sie findet, dass Stuttgart nach dem Krieg "autogerecht" wiederaufgebaut wurde - also schon hässlich genug ist.

Hässlichkeit in den Städten

Dieses Balkonien hier ist nicht das Reich des Bösen. Schön ist es aber auch nicht. Verblüffend daran: Die Wutbürger kämen nicht auf die Idee, dagegen zu protestieren.

(Foto: almogon / photocase.com)

Alexander Mitscherlichs berühmten Essay über "die Unwirtlichkeit unserer Städte" kennt sie auswendig. Das Vokabular dieser Schrift aus dem Jahr 1965 ist ziemlich genau das, was sie auch im Jahr 2011 über zeitgenössische Architektur denkt. "Herzlosigkeit" ist so ein Wort. Oder "Brutalismus", "unsozial", "öde", "menschenverachtend" und "hässlich".

Frau A. geht im Bewusstsein zur Wahl, der erneut geplanten Unwirtlichkeit unserer Städte in Form eines neuen Bahnhofes tapfer die Stirn zu bieten. Sie ist eine Wutbürgerin - und hat sie nicht recht?

Allerdings wird Frau A. auf dem Weg zum Kampf gegen das Großprojekt an ein paar alltäglichen Kleinigkeiten vorbeikommen. Und diese Kleinigkeiten kann man sehr interessant finden, wenn man die Frage, wer die Unwirtlichkeit unserer Städte verursacht, neu stellt. Anders stellt. Und dabei annimmt, dass nicht nur Architekten, Bauherren und Politiker die natürlichen Feinde der Schönheit sind - sondern auch wir. Wir selbst? Du und ich - und Frau A. außerdem? Das kann doch nicht sein.

Das wäre ja so, als ob all jene, die uns in Stuttgart und anderswo endlich vor der Tristesse der modernen Städte, der modernen Architekturen und modernen Bahnhöfe, der Waldschlösschenbrücken und Hochhäuser bewahren wollen, dass die selbst dafür sorgen, dass unsere Städte grausam verunstaltet sind. Demnach wären die Bewahrer der Schönheit die Produzenten der Hässlichkeit?

Ja, und zwar deshalb, weil es nicht nur ein Großprojekt ist, das über die Qualität im öffentlichen Raum befindet - sondern vor allem auch das genaue Gegenteil: die Kleinigkeit, der Kram, den wir schon so sehr gewöhnt sind, dass wir nicht begreifen, welche Rolle er spielt in der Unwirtlichkeit. Ihn sehen wir täglich und hundertfach öfter als die Bahnhöfe und Brücken. Die Mitscherlichsche Herzlosigkeit wohnt nicht nur im Reich der großen, ehrgeizigen Architektur - sondern besonders gern auch im Treppenhaus, auf dem Balkon und im Vorgarten. In der ganz kleinen, ambitionslosen, aber umso schädlicheren Architektur also.

Frau A. wird daher am Sonntag schon früh ihre behagliche Altbauwohnung im dritten Stock, die mit dem knarzenden Eiche-geölt-Parkett, verlassen - und dann an den Schuhen im Treppenhaus vorbeigehen, die der Nachbar im zweiten Stock immer vor die Tür stellt. Der tut das, weil die Schuhe dreckig sind und stinken. Kein schöner Anblick. Und weil er das auch findet und nicht in seiner Wohnung duldet, stellt er sie dorthin, wo alle etwas davon haben. In den öffentlichen Raum, der angeblich erst durch moderne Architekten zerstört wurde. Was soll's - oder? Sind doch nur Schuhe.

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Nach außen gestülptes Privatmieftum

Aber begleiten wir Frau A. noch ein Stück weiter. Vielleicht gibt es viele Schuhe dieser Art. Auf ihrem Weg in die Innenstadt kommt sie an Doppelhaushälften vorbei. Vor den Doppelhaushälften haben sich die Doppelhaushälftenbewohner Fertigteilgaragen bauen lassen. Man sieht also kein Haus und keine Fassade, wenn man daran vorbeikommt, sondern eine schäbige Billigblech-und-Betonkiste, gegen die jedes Sechziger-Jahre-Kaufhaus im Schönheitswettbewerb weit vorne läge.

Und die Bäume wurden abgeschlagen, weil Bäume Arbeit machen und Blätter verlieren. Stehen blieb im Garten nur die alte zerschlissene Piratenfahne (Deutschlandfahne, Bayernfahne, Borussia-Dortmund-Fahne). Für Kinder, die dort nicht mehr wohnen oder schon zu groß für Piratenfahnen sind. Ist halt stehengeblieben: die rostende Fahnenstange.

Aber weiter: Es kommen erbärmliche, tausendfach überklebte Klingelschilder. Es kommen massive Ketten, die in zerschlissenen Gartenschläuchen stecken. Die Ketten sichern die mit ödem Betonstein belegte Auffahrt zur Garage. Und zwar mit militanter Hau-ab!-Geste. Es kommen verschmutzte, halbblinde Fenster aus teigigem Kunststoff - die sind billig! Es kommt die unvermeidbar gigantische Satellitenschüssel, die eine Fassade eher als jeder Architekt ruiniert. Es kommt das komplette Zubehör aus dem Gartenparadies, die Plastikcampingliege, der "Pool", der einer blauen Badewanne ähnlicher ist als einem Pool - und natürlich kommt das Holzblockhaus Marke "Klondike". Klondike trägt ein Dach aus grüner Plastikfolie und sieht auch sonst unkaputtbar aus.

Zum Schluss ihres Wahlgangs kommt Frau A. übrigens noch an jenen Balkonen vorbei, von denen die meisten Menschen annehmen, sie seien Privatsache. Privater Raum. Nur: Man kann ihn sehen, diesen Raum, dieses Gerümpel, diesen Dreck, dieses nach außen gestülpte Privatmieftum. Man kann das sehen wie ein hässliches Hochhaus. Wie eine Brücke. Wie einen Bahnhof. Der Blick auf das Hässliche ist immer der Blick auf das Hässliche. Warum begehren wir nicht gegen den Terror des Alltags auf? Der hat mit unserem Leben viel mehr zu tun als all die vielgeschmähten Prestigeprojekte zusammen. Warum? Weil wir dann uns selbst anklagen müssten.

Natürlich gibt es viele gute Gründe, gegen den neuen Bahnhof in Stuttgart zu sein. Oder gegen die Brücke in Dresden. Oder für ein Schloss in Berlin. Und auch gegen ein Schloss in Berlin. Die Unwirtlichkeit aber, gegen die Frau A. und ihre Freunde kämpfen, fängt nicht im Großen an. Sondern bei Frau A. und ihren Nachbarn.

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