Uraufführung:Performance über die Amoknacht: Künstlerisch unsicheres Terrain

Lesezeit: 4 min

Hier eine Theaterszene, am 22. Juli traurige Realität: David S. erschießt im Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen. (Foto: dpa)

Während die israelische Regisseurin Yael Ronen ihr Debüt an den Kammerspielen plante, lief David S. in München Amok. Eigentlich sollte sich ihre Performance "Point of no Return" um die Zukunft des Sex drehen - nun geht es um den Terror der Nacht.

Von Eva-Elisabeth Fischer

Ui, ist das steil! In Wolfgang Menardis Spiegelkabinett, das den Raum nach hinten ins Unendliche erweitert, rutschen drei Männer und zwei Frauen Richtung Rampe. Dort liegen schon jede Menge umgekippte Stühle, die auf der Schräge offenbar keinen Stand fanden. Der israelischen Regisseurin Yael Ronen muss dieses Bühnenbild im Schauspielhaus der Kammerspiele gefallen. Denn sie bewegt sich, selbst in einem krisengeschüttelten Land geboren und aufgewachsen, auch künstlerisch ausschließlich auf unsicherem Terrain.

Vor elf Jahren hat Ronen begonnen, ihre eigenen Stücke zu entwickeln. Sie hatte einen prominenten und zugleich vertrauten Lehrmeister - ihren Vater Ilan Ronen, Intendant des Nationaltheaters Habima in Tel Aviv seit 2004, bei dem sie als Regieassistentin gearbeitet hat. Sie entwickelte ihr eigenes Genre, das man als eine geschickte Vortäuschung von (politischem) Dokumentartheater beschreiben könnte. Das gilt auch für ihre berühmteste Aufführung, die man vor acht Jahren als Gastspiel in München sehen konnte: "Third Generation" über ererbte Traumata, erzählt in der Konfrontation von Israelis, Palästinensern und Deutschen.

OEZ-Anschlag im Juli in München
:Timeline der Panik

Ein Täter, ein Tatort - und eine Stadt in Angst: Wie aus dem Münchner OEZ-Attentat ein Terroranschlag mit 67 Zielen wurde. Eine Rekonstruktion.

Von Th. Backes, W. Jaschensky, K. Langhans, H. Munzinger, B. Witzenberger und V. Wormer

Yael Ronen hat für "Point of no Return", ihre erste Inszenierung in München, die Zustandsbeschreibung einer vermeintlichen Terrornacht ausgesucht. Ihre Performance ist das Ergebnis einer radikalen Umwidmung. Anfang Juli fingen die Proben in den Kammerspielen an. Unter selbigem Titel beschäftigte man sich mit den Folgen von Cybersex, womit Ronen wohl inhaltlich an ihr Stück "Erotic Crisis" aus dem Jahr 2014 anknüpfen wollte.

Aber am 22. Juli, drei Wochen nach Probenbeginn, lief David S. im Olympia-Einkaufszentrum Amok, erschoss neun Menschen und verletzte vier weitere. München war im Ausnahmezustand. Nichts ging mehr. Die Menschen, die unterwegs waren, steckten in jener Nacht allesamt fest, und die Meldungen und Bilder auf den Smartphones und im Internet taten ein Übriges. Man ging allenthalben von einem Terroranschlag aus - point of no return.

Die Nacht nach dem mörderischen Spätnachmittag in Schwabing, der die ganze Stadt und ihre Menschen erfasste, wurde zum Gegenstand von Yael Ronens Untersuchungen, die ausnahmslos auf den Erlebnissen ihrer Schauspieler basieren. Niels Bormann, Dejan Bućin, Damian Rebgetz, Wiebke Puls und Jelena Kuljić erzählen, wo sie sich in jener Nacht befanden und was sie empfanden, und wie sie noch in dieser verstörenden, beängstigenden Situation, als Schauspieler den öffentlichen Auftritt gewohnt, ihre Reaktionen vor Publikum zu kontrollieren suchten: Menschen in einer Ausnahmesituation erliegen ihrer beruflichen Deformation und ihren persönlichen Eitelkeiten. Egal, ob sie sich auf oder fernab der Bühne oder wie Wiebke Puls mit ihren kleinen Kindern im Zuschauerraum vor der Bühne befanden, war offenbar jede(r) dieser fünf Frauen und Männer bemüht, den Profi zu simulieren.

Die Abgründe der individuellen Psychen

Yael Ronen schreitet sicheren Tritts furchtlos und forsch voran, leitet ihre Schauspielertruppe entspannt und ausbalanciert auch über die Abgründe der individuellen Psychen hinweg. So sieht es aus, an diesem Montagspätnachmittag, vor, während und nach dem ersten Durchlauf von "Point of no Return", drei Tage vor der Premiere am Donnerstag. Die Schauspieler sind es, die ihre ethnischen, religiösen, familiären Prägungen, ihre eigenen Erfahrungen, ihre schmerzlichen Erinnerungen und ihre Ängste in Bühnenerleben verwandeln.

Yael Ronen verarbeitet alle Selbstoffenbarungen zu den für sie typischen Texten: analytisch, wahrhaftig, quälend grausam und ungeheuer komisch und dabei nicht nur in ihrer zentralen politischen Dimension allgemeingültig. Warum sie sich mit den irreführenden Informationen jener Nacht und deren Folgen beschäftigt hat und nicht mit dem Amoklauf selbst? Es war ja so viel passiert davor, sagt sie und nennt die blutige Attacke im Regionalzug und all die Schlagzeilen darüber. Ihre Entscheidung für die Nacht nach den Morden in München beruht auf einer niederschmetternd zynischen Erkenntnis: Dass es sich "nur" um einen Amoklauf gehandelt habe, sei letztlich eine Enttäuschung gewesen. München war nicht länger das auserwählt erste Terrorziel Deutschlands.

SZ PlusTheater
:Klassenkampf mit E-Bike

Yael Ronen verlegt in ihrem "Kohlhaas-Prinzip" am Maxim-Gorki-Theater den Kampf gegen Feudalherrn in die Gegenwart. Eine Farce.

Von Peter Laudenbach

Ronens Engelsgesicht täuscht. Die blonden Locken, die wasserblauen Augen, der cremige Teint der jungmädchenhaften Vierzigjährigen zieren einen harten Schädel und eine Zielorientiertheit, mit der sie kalt sortiert, was sie gerade brauchen kann und was nicht. Deutschlernen, zum Beispiel, passt nicht in ihren Arbeitsalltag, obgleich sie seit drei Jahren in Berlin lebt und dort das Modell-Projekt "Exil Ensemble" mit geflüchteten Schauspielern am Maxim Gorki Theater betreibt. Deshalb ist die Verkehrssprache auch Englisch.

Eine zielstrebige Frau mit eiskalten Entscheidungen

Ein kurzes Gespräch nach einem langen Probentag ist gerade auch nicht opportun. Das perfekte Oval ihres Gesichts zeigt keinerlei Emotionen, schnell und präzise kommen die klugen Sätze einer Frau, die sich selbst im Exil befindet - allerdings, verglichen mit den Flüchtenden unter luxuriösen Bedingungen. Aber sie schließt es nicht aus, irgendwann nach Israel zurückzukehren, in ein Land, dessen aktuelle Politik ihr gründlich missfällt.

Unter den Fünfen ist eine, die mit traumatischen Situationen vertraut ist wie sie: Jelena Kuljic, 1976 in der Stadt Zrenjanin in Serbien geboren, in deren Nähe sich während des Balkankriegs ein Gefangenenlager befand. Ronen selbst hat in den Neunziger- und Nullerjahren in Israel die Hochzeit des Terrorismus miterlebt und damit eine grundsätzliche Wachsamkeit entwickelt. "Terrorismus macht Angst", sagt sie, und schlägt dann den Bogen zur Instrumentalisierung von Angst.

"Stünde jeden Tag ein Aufmacher über häuslichen Missbrauch in der Zeitung, würden alle glauben, so etwas passiere in jeder Familie täglich. Es ist eine konzeptuelle Entscheidung, wie man die Angst der Leute kanalisiert", sagt sie. Aber sie ist überzeugt, es gäbe sie nicht, die Ausweglosigkeit, wie sie auch der Stücktitel "Point of no Return" behauptet. "Man muss einfach die Kurve kriegen und um 180 Grad umkehren."

Point of no Return , Uraufführung am Donnerstag, 27. Oktober, 20 Uhr, Kammerspiele, Kammer 1, Maximilianstraße 26-28

© SZ vom 27.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: