Selbstbetrug der Demokratie:Schuld sind nicht die Populisten, sondern die Wähler

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"Das Einzige, was zählt, ist die Einheit des Volkes, und alle anderen Menschen zählen nicht" - Donald Trump. (Foto: AFP)

Den meisten Menschen sind die Einzelheiten der Gesetzgebung herzlich egal. Ihre Stimme drückt keinen politischen Auftrag aus, sondern etwas ganz anderes.

Von Andreas Zielcke

Politiker, die angeblich mit des "Volkes" Stimme sprechen, machen sich verdächtig. Demokratisch illegitim sind sie jedenfalls spätestens in dem Moment, in dem sie beanspruchen, dass nur sie das Volk vertreten und nur sie bestimmen, wer dazugehört und wer nicht. Keiner offenbarte diesen Volksabsolutismus unverhohlener als Donald Trump im Frühjahr 2016: "Das Einzige, was zählt, ist die Einheit des Volkes, und alle anderen Menschen zählen nicht (and all the other people don't matter)."

Wie bedrohlich jeder Einheitswahn ist, weiß man. Weniger evident, aber nicht weniger folgenreich ist ein tieferliegendes demokratisches Defizit. Ja, es ist womöglich genau dieses Defizit, das dem auftrumpfenden Populismus, wie wir ihn jetzt überall erleben, den Weg bahnt. Vereinfacht gesagt besteht es darin, dass das Volk gar nicht daran denkt, sich selbst zu regieren.

Allen Selbstfeiern der Volksherrschaft liegt eine naive Unterstellung zugrunde

Das jedenfalls ist das Ergebnis einer amerikanischen Studie, die unter dem Titel "Democracy for Realists" in der Princeton University Press erschienen ist, verfasst von Christopher Achen und Larry Bartels. Beide sind Sozialwissenschaftler, Achen lehrt in Princeton, Bartels an der Vanderbilt University in Nashville. Die meisten Demokratien, sagen sie, malen sich ein überaus geschöntes Bild von sich selbst, ein Märchengemälde, das ebenso weltfremd ist wie gemeingefährlich. Denn hinter dem Schleier der demokratischen Selbstglorifizierung können sich machtvolle Partikularinteressen oder Autokratien durchsetzen. Demokratien leiden massiv unter ihrem Selbstbetrug.

Was heißt das? Allen Selbstfeiern der Volksherrschaft, ob diesseits oder jenseits des Atlantiks, liegt die Unterstellung zugrunde, die Abraham Lincoln in seiner Gettysburg-Rede auf die berühmte Formel brachte: "Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk". Achen und Bartels nennen sie die "volkstümliche Theorie der Demokratie". Geht es nach diesem Glauben, so informieren sich die Bürger vor der Wahl über die Probleme des Landes, wägen Lösungsalternativen ab und versuchen diejenigen ins Amt zu wählen, die ihre als richtig erkannte Lösung politisch verwirklichen. Die Mehrheit erreichen diejenigen, die in einer rationalen Debatte argumentativ überzeugen.

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Natürlich bräuchte es keine neue Studie, um diese Unterstellung als naiv zu entlarven. Die meisten Bürger sind ja von den komplexen Gesetzeswerken, die in ihrem Namen verabschiedet werden, völlig überfordert. Wer könnte hierzulande schon erklären, wie sich die gesetzliche Rente auf der Basis von "Entgeltpunkten", "Zugangsfaktoren" und "Rentenartfaktoren" errechnet? Ein Gesetz mit größter Bedeutung für alle Rentenempfänger und alle Rentenzahler - und doch für jedermann ein Buch mit sieben Siegeln. Die Wähler erteilen ihren Volksvertretern mangels Durchblick in fast allen Politikfeldern gesetzgeberische Blankovollmacht.

Doch das Unwissen ist nicht das Kernproblem, sondern das gewollte Unwissen. Die meisten Wähler haben gar kein Bedürfnis, Genaueres zu erfahren. Mögen sie sich, zumal zwischen politischen Lagern, die Köpfe heißreden über Parteien und Kandidaten, so herrscht doch gegenüber den konkret zur Wahl anstehenden Regierungsvorhaben ein ausgeprägtes Desinteresse. Worauf gründen sie dann ihre Wahl? Im Prinzip nicht darauf, was sie denken und wissen, sondern darauf, wer sie sind.

Offensichtlich richtet sich die Entscheidung des typischen Wählers vor allem danach, welcher Gruppe er sich zugehörig fühlt, wie er sich von anderen Mentalitäten abgrenzt oder mit welcher Strömung er sich identifiziert. Trotz der überragenden gesellschaftlichen Tendenz zur Individualisierung agieren wir politisch weniger als Einzelne, die sich ihre politischen Ziele ebenso rational zurechtlegen wie ihre wirtschaftlichen Ziele, sondern als Mitglieder sozialer Gruppen. Die Wahl drückt in erster Linie eine soziale oder kulturelle Identität aus, nicht einen politischen Auftrag.

Im Mai veröffentlichten die beiden Autoren in der New York Times eine separate Studie unter dem provokanten Titel "Do Sanders Supporters Favor His Policies?" ("Favorisieren die Anhänger von Sanders dessen Politik?"). In der Tat, die Untersuchung bringt Erstaunliches ans Licht: Die Anhänger von Bernie Sanders vertraten, sobald es konkret wurde, deutlich weniger linke Politikpositionen als die Anhänger seiner damaligen Rivalin Hillary Clinton.

Die Erklärung: Sanders' Anhänger waren mächtig davon beflügelt, Teil einer mitreißenden Szene zu sein, die eine linksliberale Wende oder gar Revolution in Amerika herbeisehnt. Doch die Umsetzung in detailliert begründete Regierungspolitik mit all den notwendigen gesetzgeberischen Folgen stand nur am Rande ihres gemeinsamen Wunschbildes.

Wähler wollen gar nicht wissen, was sie mit ihrer Wahl de facto in die Wege leiten

Tatsächlich votierten die meisten von ihnen in der Umfrage der beiden Wissenschaftler für erheblich begrenztere Politikwechsel als die Anhänger der wahrlich nicht revolutionären Mrs. Clinton. Wie Sanders im Einzelnen vorgehen wollte, blieb für seine Anhänger unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Mit anderen Worten: Wähler wollen gar nicht wissen, was sie mit ihrer Wahl de facto in die Wege leiten. Sie wollen Teil einer sie selbst bestärkenden Bewegung sein.

Nicht anders war es beim Referendum über den Brexit. Viele der befürwortenden Bürger werden, da sind sich Kenner der britischen Wirtschaft einig, den EU-Ausstieg des Landes teuer bezahlen. Doch weder eine persönliche ökonomische Kalkulation noch präzise Daten der wirtschaftlichen Verflechtung Großbritanniens mit der EU spielten für sie eine Rolle. Ausschlaggebend war die Identifizierung mit einer breiten Gesinnungsströmung unter dem glänzenden Banner britischer Autonomie.

Beim Konflikt zwischen dem - mit anderen geteilten - Selbstbild und der politischen Verantwortung bleibt eher die Verantwortung auf der Strecke als das Selbstbild. Nicht dass allein mit einer Studie wie der von Achen und Bartels der Brexit oder der Erfolg Trumps zu erklären wäre, abgesehen davon, dass sie kurz vor Trumps Durchbruch als republikanischer Kandidat verfasst wurde. Aber die unerhörte Resistenz seiner Anziehungskraft gegen alle politische Rationalität wird vor dem Hintergrund der Untersuchung immerhin begreifbarer: Eine große Minderheit, die sich einig weiß in ihrem - stolzen und gekränkten - Selbstwertgefühl um die Merkmale weiß, männlich, misogyn, nationalistisch, politisch libertär und unkorrekt, identifiziert sich mit dem Provokateur als Leitfigur einer Trotz- und Widerstandskultur. Politisches Detailwissen, politische Steuerung, politische Folgen sind daneben kaum der Rede wert und lenken nur von dem verbindenden Grundgefühl ab.

Statt wohlüberlegte demokratische Selbstregierung also massenhafte Identifizierung mit Volkstribunen dieses Schlages. Eigentlich, sollte man meinen, ist politischer Realismus die Essenz der Demokratie. Ohne Realismus keine politische Verantwortung. Doch seit wann kümmern sich Identitätswünsche um Konsequenz?

© SZ vom 27.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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