Regisseur Kirill Serebrennikow:"Der Sex der Macht ist gewaltiger als der eigentliche Sex"

Die Macht der Bibel gegen die Macht der Körperlichkeit: Benjamin (Petr Skvortsov, links) entdeckt, dass ihm die Heilige Schrift mehr Erfüllung bringt.

Die Verleitung durch die Bibel gegen die Verführung des Leibes: Benjamin (Pjotr Skwortsow, links) entdeckt, dass ihm die Heilige Schrift mehr Bestätigung bringt.

(Foto: Neue Visionen)

Ob im christlichen oder islamischen Fundamentalismus - die Anmaßung der Macht funktioniert ähnlich, sagt Regisseur Kirill Serebrennikov. In seinem neuen Film zeigt er, wie schnell die liberale Gesellschaft brüchig wird.

Interview von Paul Katzenberger

Durch seine mutigen Inszenierungen ist der russische Regisseur Kirill Serebrennikow zum Star der Moskauer Theaterszene avanciert. Auch mit Filmen Erfolge feierte er Erfolge - sein Drama "Ehebruch" konkurrierte 2012 um den "Goldenen Löwen" des Filmfestivals in Venedig.

Seinen neuen Film "Der die Zeichen liest", der nun in die Kinos kommt, stellte er vergangenes Jahr in Cannes vor. Die beißende Satire ist eine Adaption des Theaterstücks "Märtyrer" des deutschen Autors Marius von Mayenburg, das Serebrennikow in eine Schule in Kaliningrad verlegt. Dort entdecken die jugendlichen Schüler gerade ihre Sexualität - die Mädchen tragen knappe Outfits und die Jungs posieren mit ihren Muskeln. Der schmächtige Benjamin kann nicht mithalten und definiert die Regeln einfach um. Unter Berufung auf die Bibel weigert er sich, am Schwimmunterricht teilzunehmen, solange die Mädchen Bikinis tragen. Mit erstaunlichem Erfolg: Plötzlich wird er für sein Umfeld interessant. In einer Welt ohne Halt und moralische Instanzen erweist sich die christlich-fundamentalistische Propaganda als Türöffner.

SZ.de: Herr Serebrennikow, wie stehen Sie zur Religion?

Kirill Serebrennikow: Der stehe ich eher fern. Ich bin Buddhist.

Aber der Buddhismus ist doch eine Religion.

Beim Buddhismus geht es weniger um den Glauben, sondern vielmehr um das Bewusstsein. Wie alles andere in der Welt kann Religion etwas sehr Gutes bedeuten, aber auch etwas Schreckliches. Religion kann für Liebe stehen, für Mitgefühl und für Hilfsbereitschaft. Oder sie bringt Dissonanzen mit sich, Abgrenzung, Hass, Mord und erbarmungslose Willkür.

In Ihrem Film "Der die Zeichen liest" zeigen Sie die Religion aber nur von ihrer negativen Seite.

In dem Film geht es nicht um Religion. "Der die Zeichen liest" handelt von einem jungen Mann, der sich auf Bibelzitate beruft, um seine selbstsüchtigen Ziele zu erreichen. Die Bibel ist wie ein Messer. Das kann in der Chirurgie dazu genutzt werden, Leben zu retten. Es kann mit ihm aber auch Leben genommen werden.

Das heißt, Religion lässt sich als Werkzeug der Macht instrumentalisieren. Wie funktioniert das genau?

Die Kirche sitzt in Russland inzwischen an den Hebeln der Macht. Die Menschen haben Angst vor ihr, weil sie für sie gefährlich werden kann. Das berühmteste Beispiel ist Pussy Riot, der Band wurde ein Prozess gemacht, der mit Verurteilungen zu Haftstrafen endete.

Aber war der Grund dafür nicht eher die Kritik an Präsident Wladimir Putin, die Pussy Riot bei dem unangemeldeten Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale vorbrachten?

Das spielte sicher eine Rolle, aber der Blasphemie-Vorwurf, der gegen Pussy Riot vor Gericht erhoben wurde, war kein Vorwand, sondern ernst gemeint. Die Kirche ist in Russland heute ein Teil des Staatsapparats. Und dieser Apparat hat schon immer mit der Angst der Menschen gearbeitet. Die Schulrektorin im Film will schlicht keinen Ärger haben. Die Russen haben diesen vorauseilenden Gehorsam in Sowjetzeiten tief verinnerlicht. Sie sind Ja-Sager, die ungefragt signalisieren, dass sie mit allem einverstanden sind. Sie bringen permanent zum Ausdruck: 'Gibt's ein Problem? Ich bin's nicht gewesen.'

Geht das dann tatsächlich so weit wie in Ihrem Film, dass eine Rektorin Bikinis im Schwimmunterricht verbietet und den Kreationismus als weitere Theorie neben der Evolutionslehre im Biologieunterricht zulässt?

Im Kino geht es nicht so sehr um die Realität, sondern mehr um die künstlerische Beschreibung dessen, was sich aus einer bestimmten Ausgangslage heraus entwickeln könnte. Aber wenn man sich umblickt, dann nimmt man ganz ähnliche Konstellationen wahr, wie sie im Film beschrieben werden - nicht nur in Russland, auch in den USA, Australien oder in Europa.

Unter Präsident George W. Bush gab es in den USA tatsächlich die Debatte darüber, ob der Kreationismus in die Lehrpläne aufgenommen werden sollte. Aber das ist fast harmlos im Vergleich zum Fundamentalismus, der im Augenblick vor allem in Teilen der islamischen Welt auftritt. Die Führer des IS etwa nehmen für sich in Anspruch, Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein, so wie das Benjamin im Film auch tut. Lässt sich der Name Gottes von Extremisten in allen Religionen gleichermaßen missbrauchen?

Ich glaube, der Mechanismus ist überall ähnlich. Möglich wird es immer durch Ignoranz, fehlende Bildung und die Undurchschaubarkeit der Machtverhältnisse.

Sie deuten im Film an, dass Venya zum Fundamentalisten wird, um auf sich aufmerksam zu machen. Am Anfang bekommt er keine Aufmerksamkeit von den Mädchen in seiner Klasse...

... und von seiner alleinerziehenden Mutter ist er in der Vergangenheit vernachlässigt worden. Für ihn ist der Fundamentalismus ein sozialer Aufstieg.

In Ihren Filmen thematisieren Sie das Verhältnis zwischen Sohn und Mutter sehr häufig. Warum?

Weil alles durch die Kindheit bestimmt wird. Das ist sehr einfach zu belegen und zu verstehen. Hinzu kommt, dass die Russen heute - und da nehme ich mich mit ein - ziemlich infantil sind. Auch als Erwachsene suchen wir gerne Zuflucht bei den Eltern, weil wir ungern Verantwortung für unser eigenes Leben übernehmen. Wir brauchen ständig jemanden, der uns hilft und der uns lobt. Wir kommen ohne permanente Unterstützung nicht aus.

"Russland ist ungeheuer vielfältig"

Kirill Serebrennikow im Mai 2016 in Cannes.

Kirill Serebrennikow: "Religion kann etwas sehr Gutes bedeuten, aber auch etwas Schreckliches."

(Foto: Getty Images)

Wieso ist das so?

Das postsowjetische Russland ist eine sehr junge Nation, in der alles noch sehr instabil ist. Ich selbst spüre, dass die Dinge noch nicht in der Balance sind. Für die Menschen ist schon der ganz normale Alltag eine große Herausforderung. Die moderne Wettbewerbsgesellschaft verlangt uns mehr autonome Entscheidungen ab, und das macht auch mir Angst. Denn das waren wir nicht gewohnt. Wir müssen erst noch lernen, mit der Selbstbestimmung umzugehen, die auch Einsamkeit bedeutet.

Durch den sozialen Aufstieg, den Benjamin als Fundamentalist macht, wird er plötzlich auch interessant für das schönste Mädchen der Klasse, für Lidia (dargestellt durch Aleksandra Revenko). Doch als sie sich an ihn heranmacht, weist er sie zurück. Warum?

Weil der Sex der Macht gewaltiger ist als der eigentliche Sex. Er spürt, dass da etwas Größeres ist als eine Liebschaft.

Warum lassen Sie Ihren Film in Kaliningrad spielen - dem früheren ostpreußischen Königsberg?

Weil das eine Stadt ist, die mit ihrer deutschen, sowjetischen und russischen Vergangenheit eine ungewisse Zukunft hat. Es ist ein Ort des permanenten Übergangs, zwischen überkommener und moderner Gesellschaft, zwischen frömmelnder Scheinheiligkeit und Aufklärung, zwischen Geschlossen- und Offenheit. Außerdem basiert der Film auf dem Theaterstück "Märtyrer" des deutschen Dramaturgen Marius von Mayenburg, das wir auf einen russischen Schauplatz übertragen haben. All das zusammen genommen brachte mich auf den Gedanken, dass Kaliningrad ein guter Schauplatz für diesen Film sein könnte.

Ihr Film ist nicht die erste unverhohlene Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in Russland, die das russische Kino in jüngerer Zeit hervorgebracht hat. Andrej Zwjagintsew beschreibt Ihr Land in "Leviathan" als zutiefst korrupt, ebenso wie Jurij Bykow in "The Fool". Als Beobachter von außen wundert man sich, wie das möglich ist. Schließlich landen Oppositionelle in Russland mitunter ziemlich schnell im Gefängnis, wenn sie Missstände anprangern. Haben Sie wegen "Der die Zeichen liest" Repressionen zu spüren bekommen?

Nein. Aber ich habe auch keine Unterstützung bekommen. Auf staatliche Förderung hatten wir keinen Zugriff.

Das war bei Zwjagintsew und Bykow vor drei Jahren noch anders. In deren Filmen stecken Fördergelder des russischen Filmfonds.

Inzwischen wäre das aber nicht mehr so, da bin ich mir sicher. Denn es hat sich einiges geändert. Inzwischen heißt es: 'Wir werden nur die Musik bezuschussen, die wir hören wollen.' Das wird ganz offen so geäußert. Insofern könnten die Filme von Zwjagintsew und Bykow heute nicht mehr mit Staatsgeldern verwirklicht werden.

Damit würde sich die russische Kulturförderung ins eigene Fleisch schneiden, denn das sind großartige Werke, die auf Festivals etliche Preise abgeräumt haben.

Das stimmt, aber die Verweigerung der Hilfe durch den Staat bedeutet nicht, dass solche Projekte in Zukunft automatisch auf den Index kommen. Unser Film zum Beispiel konnte in Moskau überall ohne Probleme gezeigt werden. Es ist nämlich nicht so, dass Russland ein Ort des absolut Bösen ist. Dies zu behaupten, ist ebenso Propaganda, wie die Feststellung, es laufe hier alles nach demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien ab.

Zumindest landen immer wieder Leute im Gefängnis, die in echten Rechtsstaaten dort nicht landen würden.

Russland ist ungeheuer vielfältig und bietet unendlich viele Nischen, in denen parallele Realitäten etabliert werden können. Russland ist riesengroß und du kannst dir einen kleinen Winkel suchen, an dem du von den ganzen Problemen des Landes nicht behelligt wirst. An dem du deine eigenen Regeln aufstellst. An dem du selbst entscheidest, wie du arbeitest, welche Kleider du trägst, was du sagst. So etwas nenne ich einen Ort der Freiheit. Heute - im Januar 2017 - existieren solche Räume in Russland.

Aber es gibt Grenzen der Freiheit. Wo liegen diese?

Es gibt eine Regel, die muss man befolgen: 'Misch dich nicht in die Politik ein!' Für mich ist das eine gute Regel, denn in Russland gibt es ohnehin keine Politik. Es gibt Propaganda, es gibt den Machtapparat, es gibt Großkonzerne und so weiter und so fort.

Aber Ihr Film ist doch hochpolitisch.

Natürlich. Aber das versteht die Staatsführung nicht.

Der die Zeichen liest, Russland 2016 - Regie: Kirill Serebrennikow. Buch: Kirill Serebrennikow, Marius von Mayenburg. Kamera: Wladislaw Opeljants. Musik: Ilja Demutskij. Mit Pjotr Skwortsow, Viktorija Isakowa, Julija Aug, Aleksandra Revenko. Neue Visionen, 117 Minuten. Im Kino seit dem 19. Januar 2017

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