Europäische Integration:Geburtswehen des neuen Europa

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  • Der Streit um die gemeinsame Währung und die Maßnahmen zu ihrer Rettung vergiften das Verhältnis der EU-Nationen.
  • Seit Ende des Kalten Krieges haben antimoderne Parolen die Integration immer begleitet.
  • Entscheidend dürfte sein, ob die EU hilft, die sozialen Folgen der Deregulierung und Privatisierung zu mildern.

Von Jens Bisky

Der Euro, heißt es, zerstöre die europäische Idee. Der Streit um die gemeinsame Währung und die Maßnahmen zu ihrer Rettung vergifteten das Verhältnis der Nationen. Hässliche alte Bekannte, die man doch längst verabschiedet glauben wollte, lungern an jeder Straßenecke, allen voran das nationalistische Ressentiment und die Völkerpsychologie. Die "faulen", schlimmer noch: "staatsfernen Griechen", die "reformwilligen Spanier", "sparfreudigen Esten" und - selbstredend - "fleißigen Deutschen" wurden in den vergangenen Wochen unermüdlich beschworen. Küchenpsychologisch gesehen, lässt sich mit Klischees die eigenen Ratlosigkeit gut kaschieren.

Und da Europa seit der Ankündigung des griechischen Referendums eine elektrisierend offene Situation erlebt, überrascht die Zunahme rhetorischer Eskalationsstrategien kaum. Ungewissheit und Verunsicherung suchen sich ihre Kanäle: ob nun auf dem Syntagma-Platz in Athen die Phrase von einer Erhebung des Volkes laut wird oder Kommentatoren in Brüssel vom Rauswurf Griechenlands fantasieren: Beides dient auch der Triebabfuhr, dem Atemholen angesichts einer bedrückenden Lage, in der Durchwursteln kaum noch möglich, aber jede Entscheidung verhängnisvoll erscheint.

Die Zuspitzung der zurückliegenden Wochen ist ärgerlich. Dass eine "linke" Regierung Schlangen von Rentnern in Kauf nimmt, die um ihre kargen Bezüge bangen, ist ein ebenso guter Grund, wütend zu werden, wie das Beharren auf "Rettungs"paketen und "Reform"programmen, die eine wirtschaftliche Erholung Griechenlands noch unwahrscheinlicher werden lassen.

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Dumme Hetze war in den vergangenen 25 Jahren immer dabei

Der Konflikt zwischen den mal mehr, mal weniger fragwürdigen Rezepten globalisierter Eliten und dem Widerstand derer, die deren Versprechungen nicht glauben wollen, weil sie den Preis dafür zu zahlen haben, ist allerdings nicht neu. Er begleitet Europa seit 1989, dem doch schönsten europäischen Jahr der jüngeren Vergangenheit. Es ist ein Konflikt zwischen Modernisierungszumutungen und Abwehrreaktionen. Populistische Versprechen, nationalistische Töne und dumme Hetze waren in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren immer dabei. Sie waren eine Art Generalbass der Transformation des Kontinents nach dem Ende des Kalten Krieges.

Die Deutschen haben dies während des Vereinigungsschocks zur Genüge erfahren. Kaum wurde der Mehrheit im Beitrittsgebiet das Ausmaß ihrer ökonomischen Abhängigkeit bewusst, bildete sich ein Sonderbewusstsein, eine Abwehrmentalität, getauft auf den Namen "ostdeutsche Identität".

Obwohl der Umsturz der Verhältnisse - Abschied vom Staatssozialismus, Übergang zur freien Marktwirtschaft - gewollt war und unter beispiellos komfortablen Bedingungen erfolgte, wurde ein breites Repertoire der Abwehr aufgerufen, von harmloser Ostalgie-Folklore über eine lähmende Kultur der stummen Verweigerung bis hin zu brutaler Fremdenfeindlichkeit. Und von westlicher Seite wurde jedem Ossi auf den Kopf zu gesagt, was heute auch die Griechen zu hören bekommen.

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Damals wurde vor einer "Überflutung" gewarnt

Der Historiker Philipp Ther hat in seinem Buch "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" die Geschichte der Transformationen seit den Freiheitsrevolutionen von 1989 erzählt. Es ist eine Geschichte des gebrochenen, vielfach modifizierten Siegeszugs "neoliberaler" Strategien. Pragmatisch versteht er darunter die Dreieinigkeit aus Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung.

Seine Studie, für die er in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, erinnert an viele glücklich vergessene Details; etwa an die über Jahrzehnte grassierende Furcht gerade der Deutschen vor dem Beitritt der ostmittel- und südeuropäischen Länder zur EU.

Wer heute den Griechen die großartigen Erfolge Polens oder auch der baltischen Republiken vorrechnet, sollte nicht verschweigen, wie damals vor einem "Dammbruch" an der Oder, vor "Überschwemmung" und "Überflutung" gewarnt wurde. Bereits im Frühjahr 1990 schrieb der Spiegel: "Polnische Schwarzhändler, Schmuggler und Ladendiebe in West-Berlin heizen die Ausländerfeindlichkeit unter Einheimischen an."

Zur polnischen Erfolgsgeschichte gehört auch, dass 1993 die Postkommunisten die Wahlen gewannen, eine viele schockierende Folge der "Schocktherapie", die am Beginn des polnischen Wirtschaftswunders stand. Privatisierungen wurden nun gebremst, der Sozialstaat nicht verteufelt, Verarmung ganzer Landstriche und Bevölkerungsgruppen nicht mehr hingenommen.

Die EU förderte, wie Ther eindrucksvoll zeigt, nach anfänglichem Zögern und Geizen, die Entwicklung der neuen Mitgliedsländer großzügig und vernünftig. Sie war nicht die Agentur marktradikaler Kaltherzigkeit, als die sie gern verschrien wird. Gewaltige Summen standen für Infrastruktur und Landwirtschaft zur Verfügung, eine dringend nötige Hilfe für die ärmeren Regionen vor allem Ostpolens. Ein Erfolg auch für die deutsche Wirtschaft, die mehr in die neuen Mitgliedsländer exportiert.

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In Südeuropa müssen die Jungen den Preis zahlen

Welches Land man auch betrachtet: westliche Abwehr der Neuen, die Rede von "Fluten" und "Fässern ohne Boden" war immer präsent, stets gab es auch antimoderne Parolen, Rückbesinnungen aufs Nationale und jede Menge Schreihälse. All diese Geburtswehen des neuen Europa sind noch lange nicht ausgestanden; und sie werden so schnell nicht verschwinden.

Entscheidend für den Ausgang dürfte sein, ob die EU hilft, die sozialen Folgen von Deregulierung, Flexibilisierung, Privatisierung zu mildern. Skeptisch stimmt, dass es in Südeuropa vor allem die Jungen sind, die den Preis der Modernisierung zahlen müssen. In den ostmitteleuropäischen Ländern waren es nach 1990 meist die Alten. Müsste nicht alles unternommen werden, den griechischen Staat zu stärken, statt ihn durch Sparprogramme und Machtspielchen zu schwächen?

Die europäische Ordnung ist und bleibt instabil, auf absehbare Zeit sehr verletzlich. Dennoch besitzt die EU gerade im Osten und im Süden des Kontinents noch viel Strahlkraft, als Friedensprojekt und aufgrund des Versprechens von Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit. Dieses Versprechen zu enttäuschen dürfte unvorstellbar teuer werden.

© SZ vom 14.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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