Neue Single "Perfect Illusion" von Lady Gaga:Auch Lady Gaga darf mal durchschnittlich sein

Lesezeit: 3 min

Oh Schreck, "Perfect Illusion", der neue Song von Lady Gaga, ist beliebiger Radiopop - und dahinter steckt noch nicht mal eine Message! Gut so.

Off the Record: die Pop-Kolumne von Johanna Bruckner

"We learned more from a three minute record than we ever learned in school", sang Bruce Springsteen 1984. Und das stimmt auch heute noch. Pop kann uns die Welt erklären - in unserer wöchentlichen Musik-Kolumne.

Der moderne Mensch ist ein Puppenspieler. An seinen Fäden hängen die verschiedenen Rollen, in denen er sich durch den Alltag bewegt (der im besten Fall gar kein Alltag ist, sondern ein tägliches Abenteuer). Hochfunktionaler Morgenmuffel, der parallel zum #firstcoffee ein ästhetisches Out-of-Bed-Selfie bei Instagram hochlädt. Dynamischer Arbeitnehmer, Lieblingskollege, Sportsfreund, Laien-Gourmet, Art-House-Film-Afficiando, Kneipenkenner, Couch-Potato, puh.

Irgendwann ist der moderne Mensch vor allem eines: müde. Dann verkrampfen die Hände, die Fäden verknoten, die Illusion des Multipersönlichkeitenmanagers ist dahin. Wer bin ich - und wenn ja, wie viele? Leider doch nur ein kleines Menschlein.

Lady Gaga nun ist die Königin der Puppenspieler, die Krönung des homo zeitgeist. Ihre Fingerfertigkeit reicht nicht nur für unzählige Rollen, sie spielt dazu auf verschiedenen Ebenen. Das macht sie zur Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Publika: Lady Gaga ist viele - und doch immer genau die eine Person, die der Bewunderer sehen will. Bestechend logisch, dass ihre neue Single, die erste nach knapp drei Jahren (den Filmsong "Til It Happens to You" nicht mit eingerechnet), "Perfect Illusion" heißt.

Es ist ein Liebeslied, genauer, ein Lied über eine zerbrochene Liebe. Es beginnt mit angedeuteten Schreien, irgendwo zwischen Mensch und Maschine, ein paar Gitarren-Riffs, der Rest sind Disco-Beats. Dazu singt die 30-jährige New Yorkerin: "It wasn't love, it wasn't love / It was a perfect illusion". Daraus könnte man auf die Schnelle zweierlei Schlüsse ziehen. Erstens: Lady Gaga verarbeitet musikalisch die Trennung von ihrem Verlobten Taylor Kinney. Zweitens: Sie tut das auf die ihr zugeschriebene Art, maximal selbstbewusst und aufbegehrend. Der Typ ist weg? Scheiß drauf, lass' abtanzen!

Wie gemacht fürs Radiohintergrundrauschen

Nur: So ganz überzeugend wirkt das nicht. Lady Gagas Stimme, die bei den vergangenen Oscars noch für echte Tränen bei der Schauspielelite sorgte, bringt keinerlei Emotion rüber. Nicht Traurigkeit, nicht Wut, Trotz oder hysterische Freude - Gefühle, die man eben so haben könnte, wenn eine Beziehung nach fünf Jahren zerbricht. Sie singt dieses Lied, als sei es eine Auftragsarbeit, als hätte ihr jemand Geld gegeben, genau diese Worte ins Mikro zu drücken. Für Lady Gaga, die wie keine andere Kunstfigur im Popbiz als authentisch wahrgenommen wird, von der man so gerne glauben möchte, dass sie die Anti-Heldin mit Haltung ist, das Gegengewicht zu all den Mainstream-Marionetten, ist das vielleicht das schlimmste Urteil. Da ist es fast geschenkt, dass der Song insgesamt beliebig klingt, wie gemacht fürs Radiohintergrundrauschen.

Lady Gaga trägt bürgerlich den wunderbaren Namen Stefani Joanne Angelina Germanotta. Das ist das Menschlein hinter dem Fame Monster. Und nicht erst seit "Perfect Illusion" drängt sich der Eindruck auf, dass dieses Menschlein sehr müde ist. Erschöpft davon, immer alle Fäden zu kontrollieren, erschöpft von all den Erwartungen, ja, den Hoffnungen, die in sie gesetzt werden. Von jungen Menschen, die das Gefühl haben, anders zu sein als alle anderen, von jenen, die nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechen (wollen), von Mobbingopfern, von Opfern sexueller Gewalt, von der LGBT-Community.

Wider das Diktat, zu funktionieren!

"Little Monsters" nennt Lady Gaga ihre Fans. Sie meint das natürlich liebevoll, aber die Wahrheit ist auch: Anbetung, wie sie ihr entgegengebracht wird, kann monstermäßig anstrengend sein. Klar, jeder Fan würde Lady Gaga zugestehen, dass sie kaputt ist - aber die Erwartungshaltung wäre wohl auch, dass sie dieses Eingeständnis als eine Art Befreiungsschlag gegen die kapitalistischen Zwänge inszeniert. Wider das Diktat, zu funktionieren! Die Frau macht schließlich selbst aus der simplen, biologischen Notwendigkeit des Atmens bei ihren Shows ein künstlerisches Statement.

"Nur" ein durchschnittlicher Song als Ausdruck von künstlerischer Erschöpfung, und vielleicht Überforderung? Viel zu subtil für Lady Gaga. Mal ganz davon abgesehen, dass das Gesamtkonzept Gaga schon immer überzeugender war als ihre musikalischen Einzelleistungen. Von "Poker Face" vielleicht einmal abgesehen.

Aber gerade weil Mittelmäßigkeit nicht zu Lady Gaga zu passen scheint, ist es gut, dass es "Perfect Illusion" gibt - denn selbst eine Lady Gaga ist (manchmal) nur ein Menschlein.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Letztes Album von M.I.A.
:In einer gerechteren Welt wäre M.I.A. ein Weltstar

Weil die Welt aber nicht gerecht ist, hört sie nun auf - mit einem letzten, chaotischen, famosen Album.

Off the Record: die Pop-Kolumne von Julian Dörr

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: