Chance The Rapper:Ganz großes Hip-Hop-Schnipsel-Theater

Chance The Rapper

Chancelor Bennett alias Chance the Rapper.

(Foto: AP)

Schwindlige Trompeten, clevere Reime: Mit seinem neuen Album "Coloring Book" schafft Chance The Rapper atemberaubende politische Kunst.

Von Jens-Christian Rabe

Man muss hier ausnahmsweise wirklich ganz vorne anfangen, also bei den allerersten Takten, weil das Schöne an Popmusik ja ist, dass manchmal ein paar schiefe Töne völlig ausreichen, um sich in ein Album zu verlieben.

Besonders, wenn sie - wie auf dieser neuen Platte "Coloring Book" des amerikanischen Rappers Chance The Rapper - aus ein oder zwei Trompeten kommen, denen eindeutig ziemlich schwindlig ist. Darunter schieben sich zögerlich warme Soundflächen, die aus einem Synthesizer kommen, der aber tatsächlich weniger gespielt als eher tastend ausprobiert wird - und man ist schon ganz hingerissen, bevor auch nur ein Beat oder gar ein einziges gesprochenes Wort zu hören war. Weil man so in die Musik hineingetaumelt wird wie man morgens aus dem Bett in den Tag herüberfallen möchte, in sanftem Schwindel.

Der Song heißt "All We Got" und ziemlich bald stellt einen ein scharfes Snare-Peitschen und das heftige Klopfen einer dumpfen Bassdrum fest auf die Füße, ganz abgesehen von Chance The Rapper himself oder vielmehr seiner Stimme, die vor sich hinbrabbelt, bevor sie einen freundlich-tiefenentspannt von der Seite anlabert, um im nächsten Moment zum großen Klage-Sprachgesang anzuheben und einen schließlich energisch darauf hinweist, was hier jetzt abgeht: das großartige dritte Chance-The-Rapper-Album natürlich, für die "kids of the king of all kings" - für die Kinder des Königs aller Könige. Amen.

"All We Got" ist eher ein Intro als ein richtiger Song und trotzdem möchte man - anders als sonst bei groß angelegten Pop-Overtüren - nicht so schnell wie möglich vorspulen, sondern zurück. Weil da doch auch noch diese brutale Posaunen- Sequenz war und am Ende dann dieser mit allerlei Soundmanipulationssoftware verwehte Lallgesang und der Kinderchor im Hintergrund und Kanye West ist da doch auch noch irgendwann zu hören?

Famoses Stimmengewimmel

Alles was sie haben - ja, es ist das ganz große Hip-Hop-Schnipsel-Theater samt famosem Stimmengewimmel, das man hier serviert bekommt. Und es geht nach dem großen Knall eigentlich auch erst richtig los. Mitsamt einer Fußballmannschaft allerberühmtester Kollegen - neben Kanye West etwa Lil Wayne, T-Pain, 2 Chainz, Young Thug, Jeremih, Justin Bieber und Jay Electronica - erfüllt Chancelor Bennett alias Chance The Rapper wirklich alle Erwartungen, die vor drei Jahren sein zweites Album "Acid Rap" weckte - und die mit fast jedem Gastauftritt seither immer größer und unerfüllbarer zu werden schienen. Zumal das Genre ja zwischenzeitlich mit Kendrick Lamar und dessen 2015 erschienenem neuen Album "To Pimp A Butterfly" auch noch eine epochale Aufwertung seines Goldstandards erlebte.

Aber davon, dass sich Chance The Rapper von all dem wohl eher beflügelt als eingeschüchtert gefühlt haben muss, konnte man schon eine Ahnung bekommen, als man im Februar seinen Beitrag auf Kanye Wests neuem Album "The Life Of Pablo" hörte. Für seinen Vers in "Ultralight Beam" gibt es im Englischen den schönen Begriff "jaw dropping", der sich mit dem etwas abgenutzten Wort "atemberaubend" leider nur sehr unbefriedigend ins Deutsche übertragen lässt.

In Chicago ist er längst eine der zentralen Figuren der schwarzen Bürgerrechtsbewegung

Andererseits hält man eben auch wirklich immer noch die Luft an, während man hört, was da vor sich geht: die Originalität, Komplexität und Cleverness der Reime und Anspielungen, die Beweglichkeit seiner Stimme, die Tempovariationen, die ihn dennoch nie aus der Ruhe zu bringen scheinen, und vor allem dieses Selbstbewusstsein, dass anders als so oft im Rap eben nicht bloß aus materiellem Reichtum und wortakrobatischen Überlegenheitsphrasen abgeleitet und immer wieder beschworen wird, sondern eher aus einem tiefen Bewusstsein für die Verantwortung, die all dies mit sich bringt - und die der 1993 geborene Sohn eines führenden Mitarbeiters von Rahm Emanuel, dem Chicagoer Bürgermeister und ehemaligen Stabschef von Barack Obama, offenbar auch anzunehmen bereit ist.

Wie Kendrick Lamar in Los Angeles ist Chance The Rapper in Chicago längst auch ein engagierter und charismatischer Kopf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Wie eng und schlüssig der Hip-Hop inzwischen Politik und große Kunst zusammenführt - das raubt einem derzeit wirklich den Atem.

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