Filmfestival Cannes:Rückkehr der Plünderer

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Mit den Filmen Wall Street: Money Never Sleeps und Draquila - Italien zittert attackiert das Kino zwei mächtige Systeme - mal mehr, mal weniger beeindruckend.

Tobias Kniebe

Ziemlich früh in Oliver Stones neuem Film gibt es ein interessantes Detail. Wall Street ist in Aufruhr, Breaking News, Gerüchte flirren hin und her, Verkaufsordern werden in Telefone gebrüllt, Zahlen rasen vorbei, rot blinkende Pfeile zeigen nach unten. Diese Art von Adrenalin entfesseln, das kann Oliver Stone ja wirklich: Eine traditionsreiche Investmentbank steht brutal unter Druck, der Kurs fällt ins Bodenlose, und in dem ganzen Chaos tauchen plötzlich Ordern auf, die alles noch viel schlimmer machen. Ein neuer, bisher unbekannter Hedgefonds setzt enorme Summen ein, spekuliert auf ein schnelles Ende, will am Zusammenbruch Millionen verdienen. Er hat einen Namen: Locust Fund.

Der junge Broker (Shia LaBeouf) gerät unter Gekkos (Michsel Douglas) gefährlichen Einfluss. (Foto: Foto: Filmverleih)

In diesem Moment sieht man vor dem inneren Auge doch tatsächlich Franz Müntefering, der sich mit Baskenmütze und Baguette unterm Arm nach Cannes geschlichen hat und jetzt inkognito unter den Zuschauern im Grand Théâtre Lumière sitzt. Er lacht laut auf. Oliver Stone hat den bösen Hedgefonds doch tatsächlich Heuschrecken-Fonds genannt.

Und das ist dann doch leider mehr als ein Drehbuchautoren-Gag, es ist ein Zeichen, das auf den Punkt bringt, was am Ende der lang erwarteten Cannes-Premiere schließlich für den ganzen Film gilt: "Wall Street: Money Never Sleeps" macht es sich etwas zu leicht.

Das Handy als Lachnummer

Oliver Stone und seine Mitstreiter wissen ein wenig zu genau, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist an den Börsen und Finanzmärkten; wo die Schuldigen sitzen und wer die Bösen sind; wie man sie zur Rechenschaft ziehen und nebenbei auch noch, mit Hilfe von ein paar tränenreichen Aussprachen und einer umwerfend integeren Frau, das traute Glück der Familie finden kann.

Dabei sah das alles doch so gut aus: Der Gag in den ersten Sekunden des Films zum Beispiel, der auch im Trailer vorkommt. Da wird Michael Douglas alias Gordon Gekko nach langjähriger Haftstrafe wegen Insiderhandels und anderer Delikte endlich aus dem Gefängnis entlassen - und bekommt vom Wärter sein Mobiltelefon ausgehändigt. Das kiloschwere Brikett aus den Achtzigern sorgt für einen Lacher - und steht zugleich perfekt für die Differenz zwischen damals und heute:

Aus wildgewordenen Individualisten sind wildgewordene Institutionen geworden, aus einzelnen Risikojunkies krebsartige Systemrisiken, aus vorstellbaren Millionengewinnen unvorstellbare Milliardenvernichtung.

Lesen Sie weiter auf Seite zwei, woran die Wall-Street-Fortsetzung lahmt - und wer es besser macht.

Davon zu erzählen, könnte die Story des jungen Brokers (Shia LaBeouf), der Gekkos Tochter (Carey Mulligan) heiraten will, an Investments im alternativen Energiesektor glaubt und unter Gekkos durchaus noch gefährlichen Einfluss gerät, theoretisch vielleicht leisten.

Ohne vor dem Kinostart alles vorwegzunehmen, muss man aber zum Beispiel sagen, dass hier eine Bald-wird-alles-zusammenbrechen-Rede vorkommt, die Gordon Gekko vor Studenten hält und die dann doch nicht die geringste Chance hat, an seine frühere Gier-ist-gut-Rede heranzureichen. Damals war das als Lüge gedacht und wurde prophetisch; heute soll es eine Prophezeiung sein und hinkt doch nur hinter tausend Leitartikeln hinterher.

Dabei könnte das Kino genau jenes Instrument des populären Erkenntnisgewinns sein, das andere Medien eben nicht mehr sein können - weil es, anders als das Fernsehen zum Beispiel, keine zwanghafte Tendenz zur Desinformation hat.

Weil es sonst keiner macht

Das macht eine andere Sondervorführung in Cannes deutlich - Sabine Guzzantis Dokumentation "Draquila - Italien zittert", die aus dem Berlusconi-Lager bereits heftig angegriffen wird. Kein Wunder: Da ist eine populäre Satirikerin in der Nachfolge des schweren Erdbebens von Aquila zur harten investigativen Reporterin geworden - einfach weil es sonst keiner macht, und weil es in Italien kein anderes Medium mehr gibt, das solche Bilder noch zeigen würde.

Silvio Berlusconi, der neue sichere Häuser für alle verspricht und dafür von weinenden Mütterchen umarmt wird, während seine Erfüllungsgehilfen Milliarden in neue, völlig überteuerte Baukontrakte pumpen, die Guzzanti in direkte Verbindung mit der Mafia bringen kann - diese fortgesetzte Ausplünderung eines Volkes im Namen väterlicher Fürsorge könnte lachhafte Satire sein, wäre sie nicht bitterste Realität.

Und das Seltsame ist: Obwohl das System Berlusconi ja bereits bis zur Erschöpfung beschrieben und analysiert wurde, erzeugt doch erst der stetige Gegenschnitt der Fernsehpropaganda mit diesen dokumentarischen Filmbildern das würgende Gefühl der Enge und Hoffnungslosigkeit, das all jene geschildert haben, die vom Leben in einer Diktatur berichten.

Eine Mediendiktatur ist Italien oft genug genannt worden, gern aus dem besserwisserischen Ausland. Das Kino aber zeigt in diesem kleinen Film seine andauernde Vitalität, weil es uns die Wahrheit dahinter wirklich spüren lässt - wie einen Faustschlag in den Magen.

Hollywood-Opium fürs Volk

Was aber will Oliver Stone, dieser rastlos politische Geist, der zur Erweiterung seines Horizonts schon mal mit Hugo Chávez Fußball spielt oder mit Evo Morales Kokablätter kaut, uns am Ende von "Wall Street: Money Never Sleeps" spüren lassen? Zufriedenheit, dass alles nochmal gut gegangen ist?

Mal angenommen, es ist ihm ernst damit: Dann war sein erster "Wall Street"-Film von 1987 ein brillantes, vielleicht ein wenig verantwortungsloses Unterhaltungsstück, in das sich unter der Hand ein paar gültige, komplexe und bittere Wahrheiten über den Kapitalismus, die Gier und die menschliche Natur eingeschlichen hatten. Sein zweiter Versuch ist nun die verantwortungsvolle, durchweg erbauliche Antwort darauf - aber leider dann doch nur ein weiterer Tropfen Hollywood-Opium fürs Volk.

Aber was soll's, man hat ja die Wahl. Man kann sich auch an Sabina Guzzanti halten, die ihren - sehr unterhaltsamen - "Draquila" auf dem denkbar ernüchterndsten Schlussakkord enden lässt. "Bloß weil etwas eine hohle Lüge ist und ein endloser Betrug, heißt das nicht, dass es irgendwann verschwindet", sagt da ein hagerer, in endlosen Niederlagen ergrauter Anti-Berlusconi-Kämpfer. "Diktaturen können Bestand haben."

Diese letzten Worte der völligen Ratlosigkeit, das ist das Paradox, lassen einen weit weniger ratlos zurück als das Ende des neuen "Wall Street"-Films. Ganz im Gegenteil: Man möchte sofort für Bürgersinn, Wahrheitsfindung und Meinungsfreiheit in den Kampf ziehen.

© SZ vom 15.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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