Dokumentarfilme im Kino:Hoffen auf 20 Zuschauer

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Eine Szene aus dem Dokumentarfilm-Erfolg "Bavaria -Traumreise durch Bayern". (Foto: Concorde Filmverleih GmbH)

Das Angebot eindrucksvoller Dokumentarfilme wird immer größer, das beweist ab Mittwoch wieder das DOK.fest in München. Aber meistens sind die Kinos leer. Kinobetreiber wie Matthias Helwig spielen die Filme trotzdem rauf und runter. Lohnt sich das?

Von Hannes Vollmuth

Im Auto hat Matthias Helwig noch den Mund schmal gemacht, geschwiegen und geseufzt. "Da kommen nicht viele", hat er zu seinem sechsjährigen Sohn auf dem Rücksitz gesagt und ist vor seinem eigenen Kino auf die Bremse getreten. "Zehn Leute, wette ich, nicht mehr", hat Helwig gemurmelt und den Mantel gepackt. Jetzt steht er vor der Glastür, Kino & Cafe Breitwand, Herrsching. Helwig drückt seinen Körper gegen die Tür und bleibt abrupt stehen. Durch die Scheibe sieht er eine Menschentraube. Er will etwas sagen. Der Lärm im Eingangsbereich verschluckt die Worte.

Wäre dieser Text ein Dokumentarfilm, könnte der Zuschauer jetzt gelb-grüne Kinotickets in Nahaufnahme sehen. Eine Hand schiebt sie über den Tisch, dazu das Wechselgeld. Schnitt: Halbtotale auf den nächsten Gast in der Reihe, dann Totale auf die Menschenmenge vor dem Kinosaal. Ein weiterer Schnitt und die Kamera verfolgt Matthias Helwig in halbnaher Einstellung, der sich durch die Menschen drängt. Ein Mann mit Glatze und einem runden Gesicht taucht in der Menge auf und sagt: "Gut, dass du diesen Dokumentarfilm bringst, Matthias."

Dokumentarfilme boomen: 2012 liefen 108 Erstaufführungen in den deutschen Kinos, das ist jeder fünfte Film. Es gab Überraschungen wie "More Than Honey" und Erfolge wie "Bavaria" und "Deutschland von oben" - Filme mit weit über 100.000 Besuchern. Und auch jetzt verkauft das Dokumentarfilmfestival in München wieder über 16.000 Karten. Aber meistens sitzen nur ein paar Menschen im Saal, die Reihen leer wie Kirchenbänke an einem Wochentag.

Wenn ein Dokumentarfilm mehr als 20.000 Zuschauer hat, ist der Produzent schon glücklich, normal sind 5.000. Von 100 Kinobesuchern wollen im deutschen Durchschnitt nur zwei einen Dokumentarfilm sehen. Aber Matthias Helwig reserviert für sie die Hälfte seines Programms. Das lohnt sich nicht. Der Kinobetreiber macht es trotzdem.

Matthias Helwig ist 53 Jahre alt, ein Mann mit grauen Haaren und einem schmalen Körper, um den der Mantel schlottert. Er macht Kino seit 27 Jahren, fast drei Jahrzehnte spielt er schon Dokumentarfilme in großer Zahl. Auch ein Filmfestival plant er jedes Jahr, das Fünf Seen Filmfestival läuft im Juli zum siebten Mal. "Programmkino ist ein Rundumpaket", sagt Helwig. Der Dokumentarfilm hat für ihn immer dazugehört. Nur Geld verdient er damit nicht.

Im Saal versinken die Zuschauer in den Sesseln. Matthias Helwig läuft an den Reihen vorbei, grüßt einen Mann im Wollpulli, winkt der Regisseurin und dem Produzenten, die heute über ihren Dokumentarfilm sprechen: "The Cut", ein Film über weibliche Genitalbeschneidung in Afrika. Helwig wirft seinen Mantel über einen Sitz in der vierten Reihe, ganz nah an der Leinwand.

Ein Moderator mit steifem Hemdkragen und randloser Brille tritt ans Mikrofon. "150 Millionen Frauen sind weltweit beschnitten", sagt der Mann. "Ich hoffe, Sie bleiben da zum Gespräch." Das Licht geht aus und die Bilder tanzen. 37 Besucher sitzen im Saal, elf mehr als am Vortag in München.

Matthias Helwig rechnet nie eins zu eins, Spielfilm gegen Dokumentarfilm, "Kokowääh 2" gegen "Vergiss mein nicht", einen Dokumentarfilm über eine demenzkranke Frau. Er weiß, wie ein Saal wirkt mit fünf Zuschauern. "Aber man darf das nicht wirtschaftlich sehen", sagt Helwig, und dass er nie einen Businessplan hatte. Sein Vorteil ist: Nach drei Jahrzehnten kennt er das Publikum so gut wie die eigenen Kinder. "Ich weiß, was funktioniert und was nicht." Inzwischen kommt das Publikum zu Helwig, wünscht Dokumentarfilme, so abseitig, dass er Mühe hat, sie zu besorgen. Steht ein Dokumentarfilm bei Helwig im Programm, zahlt er 150 Euro Mindestgarantie an den Verleiher. Auch wenn nur ein paar Leute kommen - oder niemand.

Kino-Betreiber Matthias Helwig (links) mit seinem Festival-Stellvertreter Benjamin Scholz. (Foto: N/A)

Helwig spielt Dokumentarfilme in der bayerischen Provinz: Herrsching, Seefeld, Starnberg heißen die Orte, wo seine drei Kinos stehen. Aber er profitiert von einem Publikum, das gebildet ist, das im reichen Starnberger Landkreis lebt, das ins Kino geht. Immer noch. Er hat sein Publikum an den Dokumentarfilm herangeführt, eine Arbeit von Jahren. Von 100 Kinobesuchern in Helwigs Kinos wollen 20 einen Dokumentarfilm sehen, zehn Mal so viele wie im deutschen Durchschnitt. Sieben bis acht Filmemacher lädt Helwig pro Monat ein, am häufigsten Dokumentarfilmer. Er setzt auf Veranstaltungen, Kinogespräche, Events - das mag das Publikum. Eine Regisseurin erzählt, nach einem Kinogespräch bekomme sie noch Monate lang Post.

Der Abspann fließt die Leinwand herunter. Das Licht geht an und die Zuschauer blinzeln in die Strahler an der Decke. Ganz hinten im Saal drückt die Regisseurin von "The Cut" die Arme durch, steht auf und läuft nach vorne zum Mikrofon. "Was ist der Zweck des Filmes, was willst du damit sagen?", fragt der Moderator zur Auflockerung. In der vierten Reihe legt Matthias Helwig das Kinn in seine Hand, die Augen wach.

Der Dokumentarfilm in Deutschland durchläuft eine Verwertungskette. Am Anfang steht das Kino, ein dunkler Saal, Sessel, eine Leinwand, der Film strahlt groß und mächtig. Später wartet der Film dann im Laden, gepresst und komprimiert auf DVD. Irgendwann flimmert er auch über den Fernseher.

Schon die deutsche Filmförderung sorgt dafür, dass Dokumentarfilme im Kino laufen. Filme wie "Berg Fidel" oder "Sumak Kawsay - Das gute Leben" müssen im Kino laufen, nur dann gibt es finanzielle Unterstützung. Alleine der Film Fernseh Fonds Bayern (FFF) förderte 2012 fünf Dokumentarfilme für das Kino, 516.000 Euro bekamen die Dokumentarfilmer insgesamt.

Vor dem Kinosaal fischt Helwig nach Bier unter der Theke, mit einem Ruck holt er eine Flasche mit Ökosiegel hervor. Eine Reporterin vom Bayerischen Rundfunk stürzt auf die Regisseurin zu, einen blauen Mikrofon-Puschel in der Hand. Während die Regisseurin redet, zwängt sich der Produzent von "The Cut" an die Theke. "Wäre schön, wenn du uns auf deinem Festival zeigst", sagt der Produzent und Helwig nickt.

Dokumentarfilmer brauchen das Kino und die Kinos brauchen den Dokumentarfilm, schon alleine für ihren Ruf. "Irgendwann zahlt sich das aus", sagen die Betreiber. Wer viele Dokumentarfilme spielt, schärft sein Profil und heimst Preise ein. Bei Helwig sind es 2500 Euro Programmförderung, jedes Jahr ehrt die Bundesregierung damit sein Programm. "Selbst wenn du nur zehn Leute hast und der Film ist gut und die Veranstaltung ist gut, dann sagen die das weiter." Beim nächsten Mal sind es vielleicht 20. Das ist Helwigs Hoffnung.

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