Desaster-Comic "Im Schatten keiner Türme":Überlagert vom Grauen des Holocaust

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Nirgendwo sonst gibt es diese unglaubliche Menge an Taumel und Stürzen, an Momenten des freien Falls: In seinem phantastischen Desaster-Comic-Buch zum 11. September sucht der New Yorker Cartoonist Art Spiegelman sein verlorengegangenes Gleichgewicht - und findet es auf persönlich-neurotischer Ebene.

Fritz Göttler

Desaster ist meine Muse, bekennt Art Spiegelman in seinem Vorwort, Desaster, die verlässliche Muse der Comic-Autoren. Das Desaster, um das sein Buch kreist und wirbelt, ist das vom 11. September 2001, der Crash der Twin Towers in New York, der hat Spiegelman, dessen Familien- und kreatives Leben in unmittelbarer Nähe, in Lower Manhattan stattfindet - seine Heimat nennt er es tatsächlich mal -, völlig verstört, für Tage, Wochen, Monate.

"Nichts lässt die Leute so sehr zusammenrücken wie ein Weltuntergang." Szene aus Art Spiegelmans Im Schatten keiner Türme. (Foto: Art Spiegelman)

Aber Anfang 2002 fängt er an, seine Erinnerungstrümmer - Feuer und Staub, Zerstörung und Tod, wirre Beschuldigungen und politische Verzerrungen - aufzuarbeiten, in zehn zeitungsgroßen Comic-Tafeln, die zwei Jahre später in einem Band zusammengefasst werden, "In the Shadow of No Towers".

Ein Desaster-Buch, das die Spuren des Einschlags trägt, den 9/11 für Art Spiegelman bedeutete, das wirr ist und brutal, sarkastisch und phantasievoll, despektierlich und desaströs . . . und allenfalls auf persönlich-neurotischer Ebene Sinn ergeben könnte: wenn der Schrecken von New York, den Spiegelman und seine Familie erlebten, überlagert wird von dem Schrecken seiner Eltern, den er in seinem berühmten Buch "Maus" verarbeitet hatte, den Schrecken des Holocaust, der KZs.

Wenn der Rauch in Auschwitz, so "unbeschreiblich", der Luft gleicht im südlichen Manhattan nach Brand und Einsturz der Towers. Als Maus taucht der Autor immer wieder auf, von Osama bin Laden mit seinem Blutschwert wie von George W. Bush mit seiner Flagge gleichermaßen schikaniert.

Sein Gleichgewicht finden wollte Art Spiegelman mit diesen zehn Seiten - auch wenn es nur ein provisorisches Gleichgewicht sein konnte, ein prekäres. Keine Kunst ist dazu besser geeignet als der Comic, der sich aufs einzelne Bild konzentriert und doch nie in ihm ruhen will, der immer auf dem Sprung ist und weiterdrängt ins nächste Bild, die nächste Zeile hinein. Der die Kontinuität feiert und sie gleichzeitig ad absurdum führt. Und nirgendwo sonst gibt es diese unglaubliche Menge an Taumel und Stürzen, an Momenten des freien Falls.

Kaum auszumachen in ihrer Phantomexistenz

Die alten Weggefährten von Spiegelmans Karriere wollten ihm diesmal nicht folgen, die New York Review of Books oder der New Yorker - Spiegelman hat zahlreiche seiner Titelbilder gestaltet, auch das zur Ausgabe nach 9/11, die zwei Türme schwarz auf schwarzer Nacht, kaum auszumachen in ihrer Phantomexistenz - es gibt auch das Titelbild des vorliegenden Bandes ab.

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Das sei wohl eher was für Europa, wurde ihm bedeutet, und tatsächlich sprangen die Zeit und einige andere europäische Blätter ein, der Independent und die London Review of Books - in Amerika war nur die Wochenzeitung Forward konsequent und druckte, "das kleine englischsprachige Überbleibsel der einst stolzen jiddischen Tageszeitung".

"Im Moment des Traumas steht die Zeit still." Szenen aus Art Spiegelmans Im Schatten keiner Türme(Foto: Art Spiegelman)

Eine Traumatisierung will das Buch zu lockern versuchen, es wird heimgesucht von Bildern, die sein Autor selbst nicht gesehen hat. Geisterhaft präsent, quasi emblemhaft, tauchen immer wieder die glühenden Gerippe der Türme auf, wie Leuchten, mit denen die Regionen des Unbewussten ausgeleuchtet werden sollen.

In Erinnerungen an Alien-Terror-Comics platzen die politischen Ereignisse, die Wiederwahl, der Irak-Krieg, das Geschacher um Öllieferungen und Massenvernichtungswaffen. Feindbilder bestimmen die Debatten - angeblich waren an diesem Morgen keine Juden in den Towers gewesen -, Nebenwirkungen werden angetippt: "Wenn es nicht diese Tragödie und die Toten gegeben hätte, könnte ich mir diesen Angriff als eine Art radikale Architekturkritik vorstellen."

Wie doch die Zeit vergeht, während sie stillsteht . . . Art Spiegelman liebt die falschen Ordnungen, die Koinzidenzen. Am Ende geht er ein Jahrhundert zurück in der Zeit und verschiebt die location, zwei Blocks nur, von Ground Zero in die Park Row, die Presse-Straße der Stadt. Hier haben Ende des 19. Jahrhunderts die Zeitungsmagnaten Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst in hartem Konkurrenzkampf etwas in Bewegung gebracht, das bis heute die amerikanische Kultur prägt, die täglichen oder sonntäglichen Comic-Strips in den Zeitungen.

Sie waren Spiegelman in der Wirrnis nach 9/11 einziger Trost, sie lässt er zum Schluss aus ihrer Archiv-Ruhestätte purzeln, von den Kin-der-Kids des Lyonel Feininger bis Winsor McCays Little Nemo. Eine Heimeligkeit, die vor Anarchie vibriert. Eine Gegenwelt zur aktuellen Realität, in die man sich nahtlos hineinträumen und die man in die wirkliche Welt hinausimaginieren kann. Wir alle sind Little Nemo, auch Art, auch Maus.

Die Sache mit dem zweiten Schuh

In einem kleinen alten Clip wird auch die Sache mit dem zweiten Schuh erklärt. Ein Mann kommt nachts fidel nach Hause, schleudert den einen Schuh vom Fuß, der mit schrecklichem Krach auf dem Boden landet, erschrocken zieht er also den andern aus und stellt ihn ganz vorsichtig hin, steigt ins Bett und schläft selig - und wird schließlich von den fluchenden Bewohnern unter ihm geweckt: "Lass endlich den verdammten Schuh fallen, damit wir schlafen können." Zwischen dem ersten und dem zweiten Desaster, was für ein prekäres, was für ein lustvolles Gleichgewicht.

ART SPIEGELMAN: Im Schatten keiner Türme. Aus dem Amerikanischen von Christine Brinck und Jürgen von Rutenberg. Atrium Verlag, Zürich 2011. 42 Seiten, 34,90 Euro.

© SZ vom 07.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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