Anti-May-Song:"Lügnerin, Lügnerin!"

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"Liar, Liar": Ein Song wie ein Protestplakat - allerdings in trotzig. (Foto: dpa)

Der Protest-Song "Liar Liar" ist in den Tagen vor der Wahl zum Hit geworden - und zeigt ein altes britisches Problem auf: Demokratie funktioniert nicht über Trotz.

Von Thomas Salter

Captain Ska protestieren also gegen Theresa May und deren Austeritätspolitik. Das ist zunächst eine feine Nachricht. Man wirft der Popkultur ja zurzeit gerne vor, dass ihr genau das fehlt: Protest. Widerstand. Haltung vielleicht auch. Die Haltung geht in diesem Fall so: Das Lied beginnt mit Einspielern von Theresa May, in denen sie verspricht, ein Land zu schaffen, das nicht nur für die Privilegierten funktioniert, sondern für alle. Stattdessen aber, so heißt es danach, würden "Krankenschwestern hungern, Schulen verkommen" und die Politiker würden sich ins Fäustchen lachen. Deswegen, immer noch der Songtext, solle man ihnen die Tür zeigen und bei den Reichen sparen, nicht bei den Armen.

Im Video dazu: Unvorteilhafte Fotos von Theresa May, die mit eingeblendeten Statistiken zu Kinderarmut und Missständen im Gesundheitswesen unterlegt sind. Alles bis hierhin nicht sehr feinsinnig. Inhaltlich kann man das an sich aber schon so machen. Trotzdem gibt es ein Problem mit dem Song.

Kann das gehen: marktwirtschaftliche Mechanismen bedienen, um Missstände anzuprangern?

Musiker werden ja doppelt angreifbar, wenn sie gleichzeitig Aktivisten sein wollen: für ihre Musik - und für ihre Politik. Captain Ska offenbaren vor allem ein Demokratieverständnis, über das sich zumindest diskutieren lässt. Und das liegt an der Art, wie das Lied veröffentlicht wurde.

Das Lied selbst ist schnell besprochen: Man kann zu der Ska-Nummer tanzen, man kann aber auch gut sitzen bleiben und über Wichtigeres reden. Über den Text, klar, vor allem aber über die Veröffentlichungsstrategie der Band. Protest ist ja immer auch Provokation und Inszenierung, und Captain Ska haben diesen Song sehr bewusst inszeniert. Vor anderthalb Wochen rief die Band über die Plattform "The People's Assembly Against Austerity" dazu auf, ihr Lied bei Amazon, iTunes und Spotify zu kaufen, damit es in den Verkaufscharts nach oben wandert und - hier kommt die Provokation - damit die BBC in Bedrängnis bringt.

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Denn die BBC untersteht einer Richtlinie, die sie im Wahlkampf dazu verpflichtet, unparteiisch zu sein. Sie darf also in ihrem gesamten Programm nicht den Anschein erwecken, in strittigen politischen Themen für die eine oder andere Partei Stellung zu beziehen. Opposition gegen die Sparpolitik der Tories könnte der Sendeanstalt, so sorgt sich die BBC, als Unterstützung von Labour ausgelegt werden. Und genau dieses Bemühen um Objektivität haben sich Captain Ska zunutze gemacht.

Das Prinzip ist bekannt: Die Band setzt auf marktwirtschaftliche Mechanismen, um zwei Missstände anzuprangern - Austeritätspolitik und die Richtlinie der BBC. Und es funktioniert: Unterstützer klickten, kauften und teilten, Amazon rankte, die BBC blockierte.

Das hat etwas von einem ehrgeizigen aber grobmotorischen Fußballer, der sich ins Abwehrgetümmel im gegnerischen Strafraum stürzt und dankbar über das erste verfügbare Bein fällt - um dann mit gespielter Empörung die Hand in den Stadionhimmel zu recken und einen Elfmeter zu fordern. Der Schiri pfeift, die Menge buht. Und dann kommt die Zeitlupe.

Trotz ist immer auch eine Abkehr von inhaltlichen Alternativen

Und die zeigt: Ja, die BBC hat die Notbremse gezogen und das kann man sicher als Foulspiel werten. Aber die Aktion und die Reaktion auf Twitter entlarvt ein ganz anderes Problem.

Viele Aktivisten haben nämlich einen Irrtum verinnerlicht. Der Irrtum lautet: Demokratie ist konsumierbar. Kaufentscheidungen reichen schon als politische Teilnahme aus. Es ist die Idee eines marktkonformen Boykotts, den Marketingfirmen und Werber über Jahre hinweg in unseren politischen Diskurs eingeflößt haben. Trinke einen Kasten von einem bestimmten Bier und rette so einen Quadratmeter Regenwald. Schlürfe eine Flasche Irgendwas-Eistee und beruhige dein Gewissen. Statt sich aktiv an der Lösung von Problemen zu beteiligen, begnügt man sich mit symbolischen Aktionen. Besser als gar nichts, keine Diskussion. Aber eben auch nicht viel besser.

Denn diese Liebe zum Symbol folgt wiederum aus einem sehr reellen Missstand. Das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien hat den Spielraum für Wähler schon immer stark eingeschränkt. Der damalige Labour-Chef Tony Blair verschlimmerte das in den neunziger Jahren noch mit seiner Abkehr von traditioneller linker Politik hin zu schön verpackter Alternativlosigkeit. Er gab Margaret Thatchers konservativem Neoliberalismus einen leicht veränderten Geschmack und vermarktete das als "New Labour", quasi die Labour-Pepsi zur Coca-Cola der Tories. Die Idee der Mitbestimmung ist dabei in Großbritannien zusehends einer Lust am gemeinsam zelebrierten Trotz gewichen.

Trotz, zumal getragen von britischem Humor, macht natürlich Spaß. Wer trotzig ist, kehrt Lösungen, kehrt ernsthaften alternativen Inhalten aber auch immer den Rücken zu.

Sie wollten doch nur dem Establishment einen Denkzettel verpassen

2011 riefen Aktivisten Bürger etwa dazu auf, in der Volkszählung die an "Star Wars" angelehnte Religion "Jediism" als Glaubensrichtung anzugeben. 177 000 Menschen spielten mit. 2016 setzte der National Environment Research Council auf eine Internetkampagne, um Briten ein neues Forschungsschiff benennen zu lassen. Der beliebteste Name war Boaty McBoatface - zu Deutsch: Boot McBootgesicht. Und gänzlich zynisch ist es wohl nicht, denselben Trotz hinter vielen Befürworterstimmen zum Brexit zu vermuten.

Gleich nach dem Sieg des Leave-Lagers meldeten sich jedenfalls viele erschrockene Wähler - sie hatten nicht damit gerechnet, dass es wirklich so kommt. Sie wollten doch nur dem Establishment einen Denkzettel verpassen. Die Nachwahl-Umfrage des "British Election Study" fand heraus, dass sechs Prozent der Brexit-Befürworter ihre Entscheidung einen Monat später bereuten.

Jede dieser für sich genommen sehr unterschiedlichen Abstimmungen zeugt von einer ähnlichen Haltung: eine Art Galgenhumor, die versucht, die eigene Machtlosigkeit zumindest unterhaltsam zu gestalten und damit irgendeiner Autorität den Mittelfinger zu zeigen.

Captain Ska haben mit ihrer Aktion dieses Gefühl bedient. Die Unterstützer konnten sich in einer symbolischen Aktion gemeinsam ihr Weltbild bestätigen. Mehr aber noch vergewissern sie sich ihrer eigenen Machtlosigkeit.

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