62. Internationales Filmfestival San Sebastián:Höllenfeuer im Paradies

Szene aus dem baskischen Spielfilm "Lasa und Zabala".

Die ultimative Heimsuchung: Szene aus dem baskischen Spielfilm "Lasa und Zabala".

(Foto: Festival)

Das Filmfestival im baskischen San Sebastián sieht in diesem Jahr dem Grauen ins Auge, und das mit hoher Kompetenz. Denn man weiß in dem zauberhaften Landstrich, wovon man spricht. Doch nicht nur dort.

Von Paul Katzenberger, San Sebastián

Wer einen Ort sucht, der dem Himmel auf Erden nahe kommen könnte, der ist mit San Sebastián ganz gut bedient. Hier laufen die westlichsten Bergketten der Pyrenäen an der Atlantik-Bucht "La Concha" ("Die Muschel") aus. Sie heißt so, weil sie in ihrer geometrischen Ebenmäßigkeit so wirkt, als ob hier tatsächlich eine höhere Gewalt am Werke gewesen sei.

Land und Wasser erschöpfen sich aber nicht in Schönheit allein; wegen guter klimatischer Bedingungen versorgen sie die Menschen mit so vielen Köstlichkeiten wie an kaum einem anderen Ort der Welt. Die baskische Version der Tapas, die Pintxos, sind legendär. Und: Die Einwohner der kleinen Großstadt können unter neun Restaurants mit 16 Michelin-Sternen auswählen. Das ist weltrekordverdächtig, denn auf einen Michelin-Stern kommen nur knapp 12 000 Einwohner. In Berlin müssen sich zum Vergleich 190 000 Hauptstädter einen Michelin-Stern teilen, selbst in Paris sind es deutlich mehr: 18 000.

Blick auf die Bucht "La Concha" in San Sebastian

Paradiesisch: Blick vom Monte Igueldo in San Sebastian auf die Bucht "La Concha".

(Foto: Keta / CC-by-sa-2.5)

Und doch liegen auf Erden das Schlaraffenland und der Ort der Verdammnis oft dicht bei einander - nur im himmlischen Paradies ist die Hölle ein für allemal überwunden. An kaum einem Ort hätte das besser erahnt werden können als bei der diesjährigen Ausgabe des Internationalen Filmfestivals San Sebastián.

Wie nahe die Hölle liegen kann, zeigte sich in dem Wettbewerbsbeitrag "Lasa und Zabala" (außer Konkurrenz) des baskischen Regisseurs Pablo Malo, der in dem Drama auf die grauenvollen Morde an José Antonio Lasa und José Ignacio Zabala zu sprechen kommt, die in den Neunzigerjahren in Spanien für einen handfesten Skandal sorgten.

Ein Ort des Grauens - nur 15 Gehminuten entfernt

Die beiden mutmaßlichen ETA-Aktivisten waren im Oktober 1983 in die Hände der GAL gefallen, einer so genannten Anti-Terror-Organisation, die vom spanischen Innenministerium ins Leben gerufen worden war, und die ebenso mörderisch vorging wie die ETA-Terroristen .

Lasa und Zabala waren von einer GAL-Einheit in den "La cumbre palacio" verschleppt worden. Die Villa in der Konkorrenea Kalea 27, einer der nobelsten Adressen San Sebastiáns, liegt vom Premierenpalast "Kursaal" gerade einmal 15 Gehminuten entfernt. Dort waren die zwei jungen Basken tage- wenn nicht wochenlang brutal gefoltert worden, um schließlich bei Alicante bestialisch ermordet und verscharrt zu werden.

Die Ausführung des Verbrechens war kalt kalkuliert, doch es blieb nicht unentdeckt: Ein Jäger fand die sterblichen Überreste der zwei Männer, die schließlich identifiziert wurden. In einem umstrittenen Gerichtsverfahren mit einer mehr als mühsamen Beweisaufnahme gelang es in den Neunzigerjahren, die Mörder ihrer Taten zu überführen.

Auf diesen historischen Fakten beruht Malos Film, der sich als Spielfilm aber nicht sklavisch an das reale Geschehen hält und auch fiktive Elemente enthält, wie es im Vorspann heißt. Und darin liegt ein Problem des Films, dessen Premiere in San Sebastián von der gesamten spanischen Presse gespannt erwartet worden war. Denn noch vor zehn Jahren wäre eine solche Vorführung nicht denkbar gewesen: den letzten ETA-Toten gab es 2010; die Aufarbeitung der blutigen Auseinandersetzung hat gerade erst begonnen.

Doch ging es José Antonio Lasa und José Ignacio Zabala tatsächlich derartig brutal an den Kragen, wie es im Film gezeigt wird? Regisseur Malo hatte schon während der Dreharbeiten vorgebaut und beteuert, es gehe hier nicht um "Pornografie der Gewalt". In San Sebastián musste er sich nun von Journalisten fragen lassen, ob er den Greueltaten der ETA in seinem Film nicht zu wenig Aufmerksamkeit habe zukommen lassen: Lasa und Zabala waren vor ihrem Martyrium wahrscheinlich an einem bewaffneten Banküberfall beteiligt gewesen - das ist schon deutlich mehr als der Streich zweier unbekümmerter Twens, als die sie in dem Drama präsentiert werden.

Brutalität, die durch nichts zu rechtfertigen ist

Christian Petzold in San Sebastian

Christian Petzold stellt sich in San Sebastian den Fragen der Journalisten zu seinem neuen Film "Phoenix".

(Foto: Paul Katzenberger)

Doch Malo wusste, worauf er sich einlässt. Die hypothetische Dramatisierung von tatsächlich abgelaufenen Folter-Exzessen, das war schon bei Kathryn Bigelows Oscar-prämierten Action-Thriller "Zero Dark Thirty" ein hochexplosives Gemisch mit starken politischen Implikationen: "Ich musste in den vergangenen Wochen ständig über Politik reden, dabei will ich mich doch lieber über das Kino auseinandersetzen", sagte der 49-Jährige trotzig.

Anders als Bigelow kann Malo zumindest nicht der Vorwurf gemacht werden, er verharmlose die Folter und präsentierte sie als womöglich letztes legitimes Mittel eines Rechtsstaates zur Selbstverteidigung. Ganz im Gegenteil. Er inszeniert die Brutalität als ultimative Heimsuchung, die durch nichts zu rechtfertigen ist: "In erster Linie wollte ich zeigen, dass es zu dieser Folter und diesen Morden niemals hätte kommen dürfen", sagte er, und darin kann ihm niemand ernsthaft widersprechen.

Die Verarbeitung der eigenen dunklen Vergangenheit hatte in San Sebastián auch Christian Petzold im Gepäck. Der Grimme-Preisträger zeigte sein neues Nachkriegsdrama "Phoenix" mit Nina Hoss und Ronald Zehrfeld in den Hauptrollen, also jenem Duo, das für ihn schon in seinem DDR-Stasi-Stück "Barbara" bei der Berlinale 2012 den Silbernen Bären geholt hatte.

Ein solcher Erfolg blieb Petzold im Baskenland versagt. Als verkaufsfördernde Maßnahme erwies sich die Vorführung in San Sebastián zwar durchaus: Der Film, der inzwischen in den deutschen Kinos angelaufen ist, sicherte sich in dem Seebad den Verleih in Japan, Kanada, Brasilien und etlichen weiteren Ländern, doch an künstlerischer Wertschätzung gab es in San Sebastián außer dem Preis der internationalen Filmkritiker-Vereinigung Fipresci nichts zu holen.

Zu viel gewollt

Petzold und sein Ko-Autor, der im Juli verstorbene Haroun Farocki, waren bei "Phoenix" womöglich zu ambitioniert: Die Geschichte handelt von Nelly Lenz (Nina Hoss), die als Holocaust-Überlebende zwar der Hölle von Auschwitz entronnen ist, aber ihre Identität verloren hat. Physisch am Leben aber seelisch tot, wird sie in Versuchung geführt, sich von ihrem Ehemann Johnny (Ronald Zehrfeld) neu erfinden zu lassen. Es geht um Liebe, Sehnsucht, Hoffnung, Verrat, den Willen zu überleben und die Kraft der Musik, also ganz schön viel. Vielleicht zu viel.

Der Film will vor allem in das Innenleben seiner Figuren durchdringen und vernachlässigt dabei Oberflächen und Plausibilitäten. Das mitunter fast schon hölzerne Auftreten der Darsteller ist zwar beabsichtigt, doch man muss sich darauf einlassen können. Das konnten unter den Juroren zumindest einige offenbar nicht.

Allerdings erging es Petzold kaum anders als den vielen anderen großen Namen, die in diesem Jahr um die "Goldene Muschel" antraten, den Hauptpreis des Festivals: Die meisten gingen entweder ganz oder nahezu leer aus.

Überkonstruiert, überdramatisiert

Szene aus "A Second Chance"

Kann es erst durch Unrecht Recht geben? Szene aus Susanne Biers "A Second Chance" mit den Schauspielern Ulrich Thomsen, May Andersen und Nikolaj Coster-Waldau (v.l.n.r.).

(Foto: Festival)

Regisseurin Susanne Bier und Drehbuch-Autor Anders Thomas Jensen stellten in dem Thriller "A Second Chance" erneut ihre Fähigkeit unter Beweis, nicht nur Spannung erzeugen zu können, sondern auch kluge Fragen aufzuwerfen. Es ist diese Mischung, die dem dänischen Gespann 2010 zum Gewinn des Oscars verhalf (mit "In einer besseren Welt"), doch bei "A Second Chance" überdrehten sie - der Film wirkte an einigen Stellen überkonstruiert. Das könnte der Grund gewesen sein, dass es für das durchaus sehenswerte Drama bei einem kleinen Nebenpreis blieb, dem Signis Award.

Mit Bille August ("Pelle, der Eroberer") war in San Sebastián ein weiterer dänischer Oscar-Gewinner im Wettbewerb vertreten, der sich in "Silent Heart" mit Witz und doch großer Ernsthaftigkeit den Fragen stellt, die die Sterbehilfe für Angehörige aufwirft. Leider lassen August und Drehbuchautor Christian Thorpe den Film in einem überdramatisierten Höhepunkt auslaufen, der ihre didaktischen Absichten allzu dick aufträgt. Die "Silberne Muschel" für Paprika Steen als beste Darstellerin war gleichwohl ein Würdigung, die der Film verdient hatte.

Auch Danis Tanovic ("No Man's Land") blieb in San Sebastián ohne Preis, dabei wäre eine Auszeichnung allein schon dem Gegenstand angemessen gewesen, den der Oscar-Preisträger von 2002 in seinem neuen Film "Tigers" aufgreift.

Es geht um die korrupten Machenschaften der westlichen Nahrungsmittelindustrie, die in der Dritten Welt Milchpulver für Säuglinge vertreibt, wohlwissend, dass nicht überall sauberes Wasser verfügbar ist. Die Folge: Millionen von Säuglingen erkranken an Durchfall und sterben einen qualvollen Tod.

Die Hölle auf Erden, auch hier. Sie ist in dieser Ausformung schon oft angeprangert worden, doch geändert hat sich so gut wie nichts. Tanovics schnörkellos angelegter David-gegen-Goliath-Geschichte (mit den Bollywood-Stars Emraan Hashmi und Geetanjali Thapa sowie Heino Ferch in einer Nebenrolle) wäre eine weite Verbreitung zu wünschen.

Viel Lob erntete in San Sebastián auch François Ozon für sein neues Melodram "Une nouvelle amie" ("Eine neue Freundin"). Doch Frankreichs Starrregisseur hatte hier bereits vor zwei Jahren mit "In ihrem Haus" triumphiert, weswegen ihn die Juroren in diesem Jahr möglicherweise nicht schon wieder ausgezeichnen wollten. Dabei hatte Festival-Chef José Luis Rebordinos beim Start des Festivals die Erwartungen an die vielen großen Namen hoch geschraubt: "Das ist die beste Auswahl, die wir bislang in den vier Jahren hatten, in denen ich hier die Verantwortung trage", hatte er stolz verkündet.

Unbeantwortete Fragen

Doch als es an die Vergabe der Hauptpreise ging, lagen für die Jury unter dem spanischen Produzenten Fernando Boveira vor allem eher unbekannte Spanier vorne: Vier der sieben wichtigsten Trophäen gingen in das Königreich - eine Entscheidung, die bei dem starken Wettbewerb etwas unausgewogen erschien. Gleich zwei Preise vergab sie an "La Isla Mínima" ("Sumpfland"), einen Neo-Noir-Krimi, der mit seinen zwei antagonistischen Kriminalbeamten Anleihen an der US-Serie True Detective zu nehmen scheint. Schauplatz sind hier nicht die Sümpfe des Vermilion Parish in Louisiana, sondern das Schwemmland des Guadalquivir in Andalusien.

Javier Gutierrez erhielt den Darstellerpreis für seine Rolle als Cop Juan in einem ungleichen Ermittler-Duo ebenso zu Recht wie Alex Catalan für seine Kameraführung. Denn die beiden Geehrten retteten den Film über seine narrativen Schwächen und unbeantworteten Fragen hinweg.

Lösegeld im Festivalpalais

Fragen ließ auch der Wettbewerbsfilm "Magical Girl" bei manchem Beobachter offen, vor allem was die Plausibilität der Handlung anbelangt. Der Film war mit Spannung erwartet worden, denn Regisseur Carlos Vermut hatte sich 2011 mit seinem Spielfilm-Debüt "Diamond Flash" als vielversprechendes Talent empfohlen.

Die unkonventionelle schwarze Komödie handelt zunächst von einem unheilbar kranken Mädchen und seinem bis ins letzte aufopferungswilligen Vater, entwickelt sich dann aber abrupt zu einer absurden Erpressungsgeschichte.

An das große Lösegeld gelangt im Film keiner auf Dauer, das wurde dafür im Festivalpalais von San Sebastián verteilt: Carlos Vermut bekam für seinen Zweitlingsfilm nicht nur die "Goldene Muschel" verliehen, sondern wurde auch als bester Regisseur ausgezeichnet.

Carlos Vermut mit der Silbernen Muschel in San Sebastian

Carlos Vermut präsentiert die "Silberne Muschel" mit der er in San Sebastian als bester Regisseur des Wettbewerbs geehrt wurde.

(Foto: Festival)
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