Führung mal anders:Wenn das Bauchgefühl den Boss ersetzt

People hold a meeting in a room at the Jellyfish office space in London

Wenn die Gruppe alles selber regeln muss, sind Platzhirsche, strategische Schweiger und stille Verweigerer in Meetings fehl am Platz. (Symbolbild)

(Foto: Neil Hall/Reuters)

Kann das gutgehen? Zu Besuch bei einem Berliner Start-up, in dem sich die Mitarbeiter in allen Fragen einigen müssen.

Von Christine Prussky

Ein Loft im tiefsten Neukölln, dort wo der Berliner Stadtteil noch nicht angesagt ist. Notebooks, weite Arbeitsflächen, ein Kickertisch, eine Küche mit Müsli-Spender und Obstkiste. Was zum Klischee eines Start-ups gehört, die Büros von Blinkist bieten es. "Bei uns gibt es keinen Boss", heißt es auf der Webseite der Firma, die ihr Geld mit einer App verdient, die den Kern von Sachbüchern in wenige Absätze zusammengefasst präsentiert. "Bei uns macht jeder das, was er am besten kann", sagt Blinkist-Mitarbeiterin Anna-Lisa Menck. "So bekommen wir alle Dinge geregelt - ganz ohne Hierarchien, Jobtitel oder angespannte Meetings."

Kann das stimmen? Judith Neumer ist skeptisch. Vor fast zehn Jahren schon hat die Forscherin am Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in einer Studie die "alltägliche Last der Kooperation" beschrieben. Ihr Fazit steht bis heute: So unverzichtbar Vereinbarungen und Abstimmung im Kollegenkreis und über die einzelnen Abteilungen hinweg für den Unternehmenserfolg sind, als eigene Leistung wird die Kommunikation im Berufsalltag nicht anerkannt.

Je stärker sich Angehörige in einer Unternehmung selbst einbringen sollen, je höher ihre Partizipations- und Mitbestimmungsmöglichkeiten, desto höher sind die Kommunikationsleistungen. Das, sagt Neumer, muss unbedingt honoriert werden, "mit Geld oder Ressourcen".

Ein Extra-Honorar für Kommunikation, für Abstimmungen und Meetings? Anna-Lisa Menck steht im Neuköllner Büro-Loft und runzelt die Stirn. Bei Blinkist ist sie aktuell für viele Personalfragen zuständig. Sie sorgt dafür, dass neue Kollegen schnell zurechtkommen und sich selbst als Teil des Ganzen sehen. "Onboarding" heißt das hier. Wenn jemand von Zuschlägen für Kommunikationsleistungen profitieren würde, Menck wäre eine Kandidatin. Nur: Sie versteht die Frage gar nicht, so fremd ist ihr die Idee. Denn so viele Besprechungen es bei Blinkist auch gibt, um den Laden mit seinen knapp 70 Beschäftigten am Laufen zu halten - die Teilnahme ist freiwillig. "Niemand muss bei uns in Meetings", sagt Menck, "jeder kann für sich entscheiden, ob so etwa hilft oder eben nicht."

Besprechungen sollen nicht zur Bewährungsprobe entarten

Tatsächlich entscheiden sich viele doch fürs Meeting. Manche tagen zwei Mal in der Woche, manche vielleicht 15 Mal - so genau weiß das Menck nicht. Was sie aber weiß, ist: Teambesprechungen dürfen keinesfalls zur Belastung werden. Sie sollen Lösungen für Sachfragen bieten oder auch Spannungen und Konflikte im Team abfangen. Ob das gelingt, ist von außen schwer zu beurteilen. Doch es gibt eine Zahl, auf die sie bei Blinkist stolz sind: Gerade mal sechs Beschäftigte haben die Firma seit ihrer Gründung im Jahr 2012 verlassen. "Das ist total wenig für ein Start-up wie unseres", sagt Menck.

Vielleicht hat das wirklich etwas mit dem konsequenten Streben zu tun, Besprechungssituationen nicht als Bewährungsprobe oder gar als Forum zum Abkanzeln einzelner Beschäftigter zu instrumentalisieren, sondern als Gelegenheit für einen effektiven, kollegialen Austausch wertzuschätzen. Platzhirsche, Claqueure, strategische Schweiger und stille Verweigerer fänden in solchen Runden schwerer Platz.

Verkorkste Meetings haben auch einen Vorteil

Das Ideal werde allerdings selten erreicht, sagt ISF-Forscherin Neumer. Ihr Trost: "Verkorkste Meetings spiegeln die internen Konflikte und sind ein ideales Lernfeld." Das setzt allerdings voraus, dass den Beteiligten solch eine Analyse auf der Metaebene gelingt. Studien zeigen, wie selten das ist. Viel wäre schon gewonnen, wenn Firmen in ihren Besprechungen ganz klar trennten zwischen der sachlichen Problembeschreibung, der Informationssammlung, dem Listen der Lösungswege und der Bewertung.

Wer dieses Trennungsgebot verletze, verspiele wichtige Chancen für eine gute Entscheidung, sagt Andreas Mojzisch, Sozialpsychologe an der Uni Hildesheim. Eine geradezu klassische Tretmine etwa bei Personalentscheidungen sei die Eingangsfrage: "Welche Bewerber fanden Sie spontan am besten geeignet?" Solche Killersätze seien in allen Branchen an der Tagesordnung, sagt Mojzisch, und machten Entscheidungen praktisch zur Glücksache.

Auch wenn in Betrieben die Logik einer "rationalen Entscheidungsfindung unhinterfragt" gilt, wie Judith Neumer meint, ist sie in Gruppen doch ein allzu hoch gestecktes Ziel. Denn oft beriefen sich Teilnehmer von Besprechungen eher auf das berühmte Bauchgefühl. "Die Erfahrungen, Ahnungen und das Gespür müssen in Meetings geäußert werden dürfen", sagt Neumer, wohlwissend, dass genau das oft nur in informellen Treffen möglich ist. "Ich habe kein gutes Gefühl dabei" - solche Bekenntnisse fallen Beschäftigten in Meetings mit Vorgesetzten gemeinhin schwer.

Tun, was der Teamleiter sagt - oder auch nicht

Anna-Lisa Menck hat bei Blinkist damit kein Problem. Auch wenn sie keinen Boss hat, einen Teamleiter hat sie sehr wohl. Der darf ihr zwar keine Entscheidungen oder Aufgaben diktieren, ihr aber durchaus "Empfehlungen" aus seinem Erfahrungswissen oder auch aus dem Bauchgefühl heraus geben. "Die kann ich annehmen oder nicht. Niemals käme er auf die Idee, meine Entscheidung anzuzweifeln oder zu revidieren", sagt Menck.

Was selbstbewusste und selbstbestimmte Menschen wie Menck als Freiheit begreifen, mag für andere die Hölle sein. Denn wer entscheidet, der trägt auch die Verantwortung.

So ist das auch bei Blinkist. Beim Handelsregister förmlich als GmbH eingetragen, hat sich das Start-up holokratisch organisiert. Das bedeutet, dass alle Beschäftigten ihre Aufgaben und Rollen selbstbestimmt ausfüllen, entwickeln - und auch wieder abgeben. Das soll Stillstand vorbeugen, sorgt aber auch immer wieder neu für erheblichen Abstimmungsbedarf. Wer macht gerade was? Wer ist wofür verantwortlich? Wer kann bei einer bestimmten Frage am besten weiterhelfen, wo ist sachkundiges Feedback zu erwarten, und wer muss im Vorfeld einer Entscheidung auf jeden Fall gehört werden?

Etwa hundert Seiten umfasst das Blinkist-Handbuch, das es ganz altmodisch in gedruckter Form gibt. Zusammengestellt hat es Anna-Lisa Menck. Die 28-Jährige hat Literatur und Medienwissenschaften in Hamburg, Berlin und St. Louis studiert, eine Promotion geplant und sich dann doch für den Gestaltungs- und Entfaltungsraum entschieden, den die Blinkist-Gründer ihr boten. Besonders viel Zeit hat sie zuletzt damit verbracht, die Rollen- und Aufgabenprofile zu schärfen, zu beschreiben und im Intranet für alle zugänglich zu machen. Das erspart jedem einzelnen mühselige Recherchen, und macht den Weg frei für den direkten Austausch.

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