Bosnien-Herzegowina:Der Krieg in den Köpfen

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"Frieden stiften durch Erziehung": Das United World College in Mostar bringt Jugendliche aus der ganzen Welt zusammen - und macht Völkerverständigung zum Hauptfach.

Christine Burtscheidt

Hoch oben auf dem Dach der Bankruine ist Mirwais' Lieblingsplatz. Hier sitzt der hagere Junge oft und blickt über Mostar, das der Fluss Neretwa in ein bosnisches Viertel mit Minaretten und ein kroatisches mit Kirchtürmen teilt. Von hier aus lässt sich ermessen, was der Krieg im Süden Bosnien-Herzegowinas angerichtet hat.

Die Brücke von Mostar verbindet die kroatischen Stadtviertel mit den bosnischen. Im Krieg wurde sie zerstört, mittlerweile ist sie wieder aufgebaut. (Foto: Foto: AP)

Zerbombte Häuser, wohin man sieht. Anklagend ragen die grauen Betonskelette aus den Reihen der Geschäfte und Wohnhäuser heraus. Mehr als die Hälfte aller Gebäude wurden zwischen 1992 und 1995 zerstört, 3000 Menschen starben. Die meisten am "Bulevar", wo die Frontlinie verlief, an der die Armeen der Bosnier und Kroaten aufeinandertrafen und jetzt die Bankruine steht. "Es wird dauern, bis die Stadt wieder zusammenwächst", sagt Mirwais.

Die tägliche Wut

Der 19-Jährige spürt täglich die Wut, die in den Menschen von Mostar weiter gärt. Mal bricht sie nach einem Fußballspiel aus, mal an der Pforte der kroatischen Klinik, die sich weigert, eine sterbende bosnische Frau aufzunehmen. Mirwais ist Schüler am United World College (UWC), das in einem maurischen Gebäude aus dem vorletzten Jahrhundert untergebracht ist, dem einzigen farbigen Lichtblick in diesem Viertel.

Eigentlich ist es der Sitz des ersten Gymnasiums der Stadt. Inzwischen befinden sich hier aber gleich drei Gymnasien unter einem Dach: eines für die Bosnier und eines für die Kroaten, mit getrennten Lehrplänen, Kollegien und Unterrichtszeiten; und schließlich das UWC, in dem die Kinder der verfeindeten Volksgruppen gemeinsam in einer Klasse sitzen, außerdem Schüler aus weiteren 55 Nationen. Das College will allen zeigen, dass es auch miteinander geht.

Mostar ist kaum regierbar

Mostar ist berühmt für seine Brücke über die Neretwa, von der sich seit dem Mittelalter tollkühne junge Männer stürzen, um heiratsfähigen Mädchen zu imponieren. Sie war aber immer auch Symbol einer geglückten Verbindung zwischen dem bosnischen und dem kroatischen Stadtviertel. Im Krieg wurde sie zerstört, mittlerweile ist sie wieder aufgebaut. So wie es auch wieder eine gemeinsame Stadtverwaltung und ein gemeinsames City Council gibt. Dennoch ist Mostar bis heute kaum regierbar.

Der Krieg lebt in den Köpfen und Herzen der Menschen fort. Das Parlament kann sich nicht auf einen Bürgermeister verständigen. Die Stadt ist voller Polizisten und Vertreter internationaler Nichtregierungsorganisationen. Sie wollen den 100.000 Einwohnern helfen, ihre Barrieren im Kopf abzubauen und zu einer Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Den Auftrag hat auch das United World College.

"Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können", sagt Mirwais. Er kam im Herbst auf die Schule und fühlt sich wohl hier, weil das College ihn lehrt, dass man sagen darf, was man denkt; dass man Feinde hat, die eigentlich keine sind, und dass man Frieden finden kann, selbst nach einem langen Krieg. Für Mirwais ist das nicht selbstverständlich. Er kommt aus Afghanistan. Bis zu seinem 15. Lebensjahr hat Marwais nur Krieg und Flucht erlebt.

Fleißig und klug

"Frieden stiften durch Erziehung" lautet der Auftrag der United World Colleges. Zwölf davon gibt es weltweit, oft in ehemaligen Kriegs- oder Krisengebieten, in Indien und Afrika. Ihre Schüler wählen sie zur einen Hälfte aus Bewerbern des Landes und zur anderen Hälfte aus der ganzen Welt aus. Es sind fleißige und kluge Jugendliche, die hier zusammenfinden, das Eignungsverfahren ist anspruchsvoll. Zwei Jahre bleiben sie zusammen, dann legen sie das International Baccalaureate Diploma (IB) ab, ein internationales Abitur, mit dem sie sich nahezu an jeder Universität bewerben können.

In Mostar werden sieben Fächer gelehrt, darunter Mathematik, Naturwissenschaften und mindestens eine Fremdsprache; gearbeitet wird in kleinen Gruppen, mit Lehrern, die sich für den Job oft eine Auszeit nehmen. So wie Barbara Littner aus Graz, die Französisch und Englisch unterrichtet und schwärmt: "Die Schüler hier sind so intelligent, motiviert und menschlich. Das ist jeden Tag eine Freude."

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Kurt Hahn, deutscher Pädagoge und Jude, der während der NS-Zeit nach England emigrierte, gründete das erste UWC 1962 in Wales. Es sollte von Anfang an mehr als nur eine Schule sein. Selbständiges und kritisches Denken stehen hier auf dem Lehrplan, ebenso soziales Engagement. Einmal die Woche müssen Schüler ehrenamtlich in sozialen Einrichtungen der jeweiligen Stadt mitarbeiten. In Mostar ist es die Schule für Behinderte oder das Heim für Roma und Sinti. Für Mohammed aus dem Libanon war das anfangs ziemlich aufregend, weil er zuvor noch nie Kontakt mit einem behinderten Menschen hatte: "Das hier ist kein akademisches Programm, sondern eines für das Leben", sagt er.

Hier funktioniert, was sonst nicht gelingen mag

Muslime und Christen leben und lernen am UWC zusammen. Offenbar funktioniert hier, was den verfeindeten Völkern in Mostar oft noch nicht gelingen mag. Vielleicht auch, weil es an die Schule nur Menschen zieht, die den alten Konflikten nichts abgewinnen können. "Der Krieg war eine dumme, kindische Sache", sagt Eddi, ein Bosnier. So viele Menschen hätten ihn mit ihrem Leben bezahlt. Eddis Eltern weigerten sich, an der Auseinandersetzung teilzunehmen. "Warum soll ich auf Freunde schießen?", fragte damals der Vater und flüchtete mit der Familie nach Deutschland, wo er sich als Lkw-Fahrer durchschlug. Längst sind seine Eltern wieder zurückgekehrt, doch Eddi vermisst seine Freunde aus Rüsselsheim. Später möchte er zum Studium wieder nach Deutschland gehen.

"Wer sich entscheidet, ans UWC zu kommen", sagt Tobias, "der muss mit allen Ethnien klarkommen, mit Bosniern, Kroaten und Serben." Der 18-Jährige ist aus Freiburg, war dort lange in der Schülermitverwaltung aktiv, ging für ein halbes Jahr nach Frankreich und bewarb sich anschließend für das UWC, weil er eine "neue Herausforderung" suchte. Die "gelebte Vielfalt im Alltag hier ist einzigartig", sagt er. Er lese nicht mehr Zeitung, weil er täglich mehr aus der Welt von seinen Mitschülern erfahre. Das sei gelebte Völkerverständigung. Aber er sagt auch: "Viele Wunden sind in Mostar noch nicht verheilt."

Große Zweifel, geringe Spendenbereitschaft

Frieden herrscht an der Schule, nicht aber in der Stadt. Auch Schulleiter Paul Regan ist skeptisch, ob sich die Dinge in Mostar schnell ändern werden. "So idealistisch bin ich nicht", sagt der gebürtige Londoner. Langfristig aber werde das College Wirkung haben, bei der jungen Generation. Regan kämpft jedes Jahr darum, Sponsoren zu finden, um die zwei Millionen Euro Jahresetat der Schule zu sichern. Mittel kommen aus dem Ausland, den Niederlanden und Norwegen.

In Bosnien-Herzegowina aber sind die Zweifel groß, die Spendenbereitschaft ist gering. Doch Regan gibt nicht auf, seine Schüler zu fördern, damit sie "Bürger für eine bessere Zukunft" werden können. So wie Mirwais. Er will in Mostar seinen Abschluss machen, in den USA studieren und dann nach Afghanistan zurückkehren, um als Friedenstifter zu wirken. Sagt es und zeigt vom Dach der Bankruine gen Osten.

© SZ vom 21.12.2009/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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