Spuren der Gewalt:Die Seele leidet fürchterlich

Spuren der Gewalt: Die Hälfte aller Flüchtlinge gilt als psychisch krank, wenn sie Deutschland erreichen. Samira Aziz hatte das Glück, dass sie sofort von einer hilfsbereiten Frau aufgenommen wurde.

Die Hälfte aller Flüchtlinge gilt als psychisch krank, wenn sie Deutschland erreichen. Samira Aziz hatte das Glück, dass sie sofort von einer hilfsbereiten Frau aufgenommen wurde.

Auch wenn das Meer bezwungen und Deutschland erreicht ist, sind viele Flüchtlinge schwer traumatisiert. Die Geschichte von Samira Aziz, die keine andere Wahl hat, als weiterzuleben.

Von Astrid Viciano

Samira Aziz* hält noch ihr Brautkleid in den Händen, als sie vom Flughafen in das Krankenhaus fährt. Sie kommt gerade aus Paris, ihr Kopf steckt voller Pläne für die anstehende Hochzeit, für die gemeinsame Zukunft mit ihrem Bräutigam. Sie wollen bald aus ihrer politisch unsicheren Heimat nach Dubai umziehen, der talentierte Architekt und die erfolgreiche Geschäftsfrau. Doch mit einem Schlag wird an jenem Tag aus Samira eine Braut ohne Bräutigam.

Ihr Verlobter liegt schwer verletzt in der Klinik, ein Polizist hat ihm ins Auge geschossen, die Ärzte können nichts mehr für ihn tun. Samira Aziz bleibt keine Zeit, um zu trauern; sie muss das Land verlassen, die Mitglieder der politischen Gruppierung, der ihre Familie angehört, wurden zu Terroristen erklärt. Sie flieht mit Verwandten in den Sudan, dort soll sie einen alten Mann heiraten, zum Schutz der Geflüchteten im fremden Land. Sie wehrt sich nicht, ohne ihren Verlobten hat das Leben für die 32-Jährige jeden Sinn verloren. Doch Freunde organisieren gefälschte Papiere, ein Schlepper bringt sie nach Deutschland. Ihre Geschichte zeigt, was Flüchtlinge nach ihrer Ankunft brauchen, um auch psychisch zu überleben.

Spuren der Gewalt

In loser Folge berichtet die SZ, was Krieg, Terror und Folter mit Gesellschaft und Menschen machen. Alle Texte der Serie finden Sie hier ...

Im März 2014 kommt Samira Aziz in München an, aus der wohlhabenden Businessfrau ist ein mittelloser Flüchtling geworden, ohne Pass, ohne Hoffnung, jemals zurückzukehren in ihre Heimat, die hier geheim bleiben muss. Wie vor Angst erstarrt sitzt Samira Aziz schließlich in der Sprechstunde der Psychiaterin Stephanie Hinum. Vor der Ärztin sitzt ein schmales Wesen mit leerem Blick, vornübergebeugt im Sessel, wie eine sehr alte Frau. "Sie war eigentlich gar nicht da", berichtet Hinum über ihre erste Begegnung mit der Patientin im August 2015. Und ihre Stimme, daran erinnert sich die Ärztin, ihre Stimme klang sehr dünn und schrill.

Viele Flüchtlinge spüren, dass von der Willkommenskultur wenig übrig geblieben ist

Die Seele der jungen Frau nämlich hatte fürchterlich gelitten, wie bei so vielen der Menschen, die Deutschland in den vergangenen Jahren erreicht haben. In einer repräsentativen Befragung von 639 geflüchteten Frauen in fünf Bundesländern gab aktuell fast die Hälfte an, in der Heimat oder auf der Flucht dem Tod nahe gewesen zu sein. Krieg, Terror, Folter hatten die Frauen vertrieben. Mindestens die Hälfte aller Flüchtlinge gilt als psychisch krank. Die meisten von ihnen leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit sich immer wieder aufdrängenden Erinnerungen an ihre Erlebnisse, mit Schlafstörungen, Wutausbrüchen. Mehr als jede zehnte der Frauen in der Studie hat überlegt, sich das Leben zu nehmen.

Und viele Flüchtlinge spüren derzeit, dass von der Willkommenskultur im Herbst 2015 wenig übrig geblieben ist. An Meldungen über ertrunkene Flüchtlinge haben sich die Menschen gewöhnt, es herrscht dumpfe Gleichgültigkeit. Besonders afghanische Flüchtlinge wissen, dass ihnen Schutz heute seltener gewährt wird; sie müssen damit rechnen, abgeschoben zu werden. "Die Stimmung hat sich verschärft", sagt die Münchner Psychologin und Psychotherapeutin Birgit Gass, die seit ein paar Monaten Informationsabende für Flüchtlingshelfer organisiert. Wie bei einem Seiltänzer, der plötzlich schwere Gewichte tragen muss, bringen die neuen Entwicklungen in Deutschland viele Geflüchtete völlig aus dem Gleichgewicht.

Aber nicht einmal jede zehnte Frau hat die Möglichkeit, mit einem Psychologen oder Therapeuten zu sprechen, ergab die Studie der Charité, nur ein Bruchteil der Geflüchteten erhält eine Behandlung. "Psychisch erkrankte Flüchtlinge werden in Deutschland nicht angemessen versorgt", sagt Meryam Schouler-Ocak, Leiterin des Referats Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, die an der Befragung beteiligt war.

"Viel ist es nicht, was ich tun kann"

Um das zu ändern, hat die Organisation Ärzte der Welt im Oktober 2016 in München damit begonnen, in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften psychiatrische Sprechstunden einzuführen. Zweimal pro Woche spricht Stephanie Hinum mit maximal vier Flüchtlingen pro Sitzung, eine halbe Stunde pro Patient muss sein, oft braucht die Ärztin mehr Zeit. "Viel ist es nicht, was ich tun kann", sagt die Psychiaterin, sie hat wache blaue Augen, sehr kurze blonde Haare, trägt einen grauen Wollpullover. Auf dem Tisch stehen eine Flasche Wasser und ein Pappkarton mit Taschentüchern, darauf sind rote Herzen abgebildet.

In das Sprechzimmer kommt an diesem Abend ein unscheinbarer kleiner Mann mit pausbäckigem Gesicht, der zunächst vor allem freundlich lächelt, dann aber erzählt, dass er einst für den Fuhrpark des afghanischen Präsidenten arbeitete. Kurz vor seiner Flucht wollten ihn die Taliban dazu bringen, Bomben in Regierungsfahrzeugen zu platzieren. Eine mittelschwere Depression wird Hinum bei ihm diagnostizieren, ihn ein paar Wochen lang behandeln und dann mit ihren Kolleginnen versuchen, was äußerst schwierig ist: dem Flüchtling einen Weg in die deutsche Gesundheitsversorgung zu ebnen.

Der nämlich ist so verschlungen, dass sich die Patienten selbst verlaufen würden. Es geht um Kosten, vor allem, und es geht um Gutachten, Atteste, Anträge. In den ersten 15 Monaten in Deutschland dürfen Flüchtlinge ohnehin nur in akuten Notfällen medizinisch versorgt werden. Eine Psychotherapie müssen Psychologen und Psychiater gesondert beantragen. "Dafür sind insgesamt neun bürokratische Schritte nötig", sagt die Psychologin Birgit Gass. Daher seien die Sozialarbeiter in den Gemeinschaftsunterkünften oft verzweifelt; sie kennen so viele psychisch kranke Menschen, die keine Behandlung erhalten.

Wenn das "Ich" eines Menschen zeitweise zerfällt

Schon einheimische Patienten müssen oft Monate auf eine Behandlung warten, für die Flüchtlinge sieht es noch schlechter aus, weil manche Therapeuten den zusätzlichen Aufwand scheuen. Oft brauchen sie einen Dolmetscher, doch tragen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten nicht. "Das ist ein Riesenproblem", sagt Birgit Gass. Sie selbst hat eine Kirchengemeinde gefunden, die den Dolmetscher eines Patienten bezahlt.

Samira Aziz brauchte keinen Übersetzer, sie spricht Englisch, und sie hat inzwischen so gut Deutsch gelernt, dass ihr Englisch mit deutschen Wörter durchtränkt ist. Sie hat einen Therapieplatz bei Refugio ergattert, einer der Organisationen in München, die Psychotherapie für Flüchtlinge anbieten, auch Stephanie Hinum arbeitet dort. Nur zweimal im Jahr kann Refugio neue Patienten annehmen, die Organisation ist völlig überlaufen.

Zunächst versucht Stephanie Hinum bei einem neuen Patienten zu beurteilen, wie stark traumatisiert er ist. Ob jemand einmalig knapp dem Tod entkommen ist, nach einer Naturkatastrophe oder einem Überfall. Oder ob er über längere Zeit misshandelt, inhaftiert oder gefoltert wurde. Besonders schwer wirkt sich ein Erlebnis aus, wenn die Tat von Menschen ausging, zerstörerisch und mit voller Absicht, wie bei Samira Aziz.

Als sie der Psychiaterin Hinum erstmals gegenübersitzt, hat sie Ringe unter den Augen, ihre Wangen sind eingefallen. Nun ist es an der Ärztin, Kontakt zu diesem verschreckten Wesen aufzunehmen. Fast ständig ist die Patientin abwesend, dissoziativ nennen Psychiater diesen Zustand, wenn das "Ich" eines Menschen zumindest zeitweise zerfällt. "Sonst hätte ich den Schmerz nicht aushalten können", erinnert sich Samira Aziz, und ihre Stimme verändert sich beim Reden, wird wieder sehr hoch und dünn. Sobald sie von ihren Gefühlen spricht, bricht ihre Stimme fast.

"Sie wäre vielleicht verhungert"

Damals kam ihr geplagter Geist nie zur Ruhe, und knurrte ihr Magen, nahm sie es gar nicht wahr. In einer normalen Flüchtlingsunterkunft, sagt Hinum, hätte Samira Aziz nicht überlebt: "Sie wäre vielleicht verhungert." Zu sehr hatten die Erlebnisse in ihrer Heimat ihr ganzes Sein zerstört, wie wenn jemand eine Glasflasche mit voller Wucht auf einen Steinboden wirft.

Wie gut ein traumatisierter Mensch seine Erfahrungen verarbeitet, hängt ganz entscheidend davon ab, wie es ihm nach den fürchterlichen Erlebnissen ergeht: in der Zeit danach, für viele Flüchtlinge also in der Zeit in Deutschland. Die Bedingungen, unter denen die geflüchteten Menschen nach ihrer Ankunft leben müssen, welche Unterstützung und welche Perspektiven ihnen geboten werden, bestimmen also darüber mit, ob und wie schwer sie psychisch erkranken.

Im Therapiegespräch behält Samira Aziz zunächst ihre Jacke an, sie legt ihre Tasche auf den Schoß, hat die Tür fest im Blick. Sie könnte bei Gefahr sofort davonlaufen. Stephanie Hinum redet daher zunächst über Banales, über das Wetter, den Alltag, fragt, was sie an diesem Tag gegessen hat. Damit sich die Patientin sicher fühlt. "Das ist für die Geflüchteten enorm wichtig", sagt Hinum. Auch sollten sie sich in ihrem neuen Zuhause nicht vor Übergriffen fürchten.

Doch die Befragung an der Charité hat das Gegenteil gezeigt. "Die erschreckende Realität ist leider, dass sich Frauen und Kinder auch in Flüchtlingsunterkünften häufig nicht sicher fühlen", sagte Dietrich Munz, Präsident der Psychotherapeutenkammer erst im April anlässlich der Studienergebnisse.

So war zum Beispiel Yara Habib* zunächst mehr als glücklich, als sie im September 2015 endlich in Deutschland ankam, eine Frau mit offenem Blick und Kopftuch, sie lacht anfangs viel, später im Gespräch wird sie weinen. Einen Monat und 25 Tage lang war sie unterwegs, in Iran musste sie mit ihren beiden Kindern nachts gefährliche Bergpfade entlanglaufen. "Ich hatte wahninnige Angst", sagt sie.

Aber auch in der ersten Flüchtlingsunterkunft in Deutschland sorgte sie sich um ihre Kinder. Unterernährt seien die Kleinen gewesen, im Jahr 2017 in Deutschland, weil das Essen dort meist ungenießbar gewesen sei. Darum versteckte sich Yara Habib spät abends mit anderen Frauen auf der Toilette, um dort heimlich mit eigenen Herdplatten zu kochen.

"Das Nichtstun verschlimmert im Zweifel die psychischen Probleme"

Seit Kurzem, endlich, wohnen sie in einer Unterkunft mit Küche, allerdings leben dort sieben weitere Familien mit 250 ledigen Männern in einem Gebäude. Die seien oft betrunken, machten viel Lärm, sagt Habib, neulich habe ein Mann sie in Brust und Rücken getreten, seine Freunde hätten einfach zugeschaut. Die 26-Jährige ist im 5. Monat schwanger. "Ich fühle mich sehr allein", sagt sie. Yara Habib wird inzwischen wegen Depressionen behandelt.

Samira Aziz dagegen hatte Glück, sie kam gleich zu Anfang bei einer hilfsbereiten Frau in einem Vorort von München unter, die Dame räumte das Zimmer ihrer Tochter für sie frei. Was ihr damals half? Dass ihre Gastgeberin sie ganz normal behandelte, über die Nachbarn, ihre Arbeit plauderte. "Ich wusste, dass ich keine Wahl hatte als weiterzuleben", sagt Samira Aziz, sie lacht traurig, ihre Stimme klettert ein paar Töne nach oben, sie klingt jetzt erneut hauchdünn.

Langsam wuchs der Kreis von Menschen, der sie einhüllte und abschirmte von der Außenwelt wie eine Schicht Watte.

Im Frühjahr 2015 begann sie einen Deutschkurs, gleich um die Ecke, es war ihr erster Schritt in ihr neues Leben in diesem fremden Land. In den Pausen zog sie sich in den leeren Nachbarraum zurück und öffnete das Fenster. Der Sprachkurs gab ihrem Tag wieder eine Struktur, gab ihr eine Aufgabe. "Das Nichtstun", kritisiert die Berliner Psychiaterin Meryam Schouler-Ocak, "verschlimmert im Zweifel die psychischen Probleme."

Umso wichtiger ist es für viele, eine Arbeit zu finden - doch ist es für Asylbewerber in Bayern seit Dezember viel schwieriger, das zu erreichen: Eine Arbeitserlaubnis sollen sie nur noch dann erhalten, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in Deutschland bleiben dürfen, das wären vor allem Asylbewerber aus Eritrea, Iran, Somalia, Syrien und aus dem Irak. Zuvor wurde es Flüchtlingen in Bayern bereits erschwert, eine Ausbildung zu beginnen.

Dennoch konnte Samira Aziz im November 2016 in einer Münchner Firma eine Ausbildung beginnen. "Das hebt das Selbstwertgefühl ungemein", sagt die Psychiaterin Hinum. Für Samira Aziz bedeutet es noch etwas anderes: Sie möchte sich selbst wiederfinden, die Person, die sie einmal war. Seit ihrer Ankunft in Deutschland sei sie nur eine Art Notprogramm ihres Selbst, ähnlich einem Gebäude, in dem der Strom ausgefallen ist und nur das Notstromaggregat funktioniert. "Die meisten von uns Flüchtlingen sind nicht wir selbst, wenn wir in Deutschland ankommen", sagt Samira Aziz.

Vor Kurzem erst berichtete die Patientin der Psychiaterin aus ihrem früheren Berufsleben als Geschäftsfrau. Und schlagartig saß Samira Aziz ganz aufrecht im Sessel, ihre hohe Stimme nahm einen tiefen, entschlossenen Klang an. "Es war, als säße eine andere Person vor mir", sagt Stephanie Hinum. Die gilt es nun wiederzufinden.

*Namen geändert

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