Masern in Deutschland:Verhängnisvolle Impflücken

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Bei jeder tausendsten Infektion kommt es zu einer schweren Hirnentzündung; in 30 Prozent der Fälle verläuft die Enzephalitis tödlich. SZ-Grafik: Hanna Eiden; Quelle: Robert-Koch-Institut (Foto: SZ-Grafik: Hanna Eiden; Quelle: Robert-Koch-Institut)

Berlin erlebt den heftigsten Masern-Ausbruch seit 2001. Möglich wurde die Erkrankungswelle, weil immer mehr Menschen nicht ausreichend geimpft sind - sei es aus Unwissen oder aus absurden Überzeugungen.

Von Werner Bartens

"Als meine älteste Tochter Olivia an Masern erkrankte, war sie sieben Jahre alt. Während die Erkrankung ihren scheinbar normalen Gang nahm, las ich ihr oft im Bett vor und entsinne mich, nicht sonderlich beunruhigt gewesen zu sein." So beginnt der Schriftsteller Roald Dahl einen Brief, mit dem er Eltern ermutigen will, ihre Kinder impfen zu lassen. "Eines Morgens, als sie schon auf dem Weg der Besserung war, saß ich an ihrem Bett und zeigte ihr, wie man kleine Tiere aus bunten Pfeifenreinigern formt", fährt Dahl fort. "Doch als sie dann selbst welche formen wollte, bemerkte ich, dass ihre Finger nicht im Einklang mit ihren Gedanken arbeiteten und sie nichts zustande brachte. Fühlst du dich nicht gut, fragte ich sie. Ich bin so müde, sagte sie. Innerhalb der nächsten Stunde war sie nicht mehr bei Bewusstsein. Zwölf Stunden später war sie tot."

Das Schicksal von Olivia war 1962 auch darauf zurückzuführen, dass Ärzte noch nicht viel gegen die Krankheit ausrichten konnten. Die Impfung wurde erst um 1970 eingeführt. Aber auch heute stirbt noch einer von tausend Kranken an Komplikationen der Masern. Seit Oktober registrierte das Robert-Koch-Institut 375 Fälle von Masern in Berlin, 254 davon im Januar. Tendenz steigend, denn in der letzten Januarwoche wurden 82 und damit so viele Fälle wie bisher noch nie in diesem Winterhalbjahr bestätigt.

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Niedersachsen meldet 26 Erkrankungsfälle seit Januar und damit bereits mehr als doppelt so viele wie im gesamten Vorjahr. Besonders betroffen sind nach 1970 Geborene. Bei ihnen gibt es Impflücken, weil bis 1990 nur einmal geimpft wurde, worauf etwa fünf Prozent der Vakzinierten keinen Schutz entwickeln.

Der Ausbruch in Berlin wird auf Asylsuchende vom Balkan zurückgeführt

Auch wenn Masern als Kinderkrankheit bezeichnet werden, was irgendwie läppisch klingt: Harmlos ist das Leiden nicht, im Gegenteil. Bei jeder tausendsten Infektion kommt es zu einer schweren Hirnentzündung; in 30 Prozent der Fälle verläuft die Enzephalitis tödlich, 20 Prozent der Betroffenen erleiden bleibende Schäden. Häufiger treten nach den Masern Mittelohr- und Lungenentzündungen auf. Letztere sind ebenfalls oft lebensbedrohlich.

Besonders fatal ist eine Entzündung des gesamten Gehirns, die Jahre nach einer Masern-Infektion auftritt. Das als SSPE bezeichnete Leiden kommt zwar nur wenige Male jährlich vor, ist aber immer tödlich - je jünger die Kinder, desto größer das Risiko, wie Würzburger Forscher vergangenes Jahr gezeigt haben. Die Abkürzung steht für Subakute sklerosierende Panenzephalitis. Die Kinder verhalten sich auffällig, ihre kognitiven wie motorischen Fähigkeiten schwinden. Nach epileptischen Anfällen und Muskelkrämpfen fallen sie ins Koma, aus dem sie nicht mehr erwachen.

Die Masern-Impfung ist hingegen mit weitaus weniger Gefahren behaftet. Im Alter von neun bis zwölf Monaten wird geimpft, die zweite Spritze folgt vier Wochen später. "Säuglinge sind besonders gefährdet, wenn der Nestschutz nachlässt", sagt Johannes Hübner, Leiter der Infektiologie am Haunerschen Kinderspital in München. "Deshalb sind sie besonders darauf angewiesen, dass die Bevölkerung geimpft ist - und die sogenannte Herden-Immunität ausreicht." Die Impfkomplikationen liegen im Bereich von eins zu einer Million. Das Risiko einer Impfung ist damit mehr als 1000-mal so gering wie jenes für schwere Masern-Komplikationen.

In Berlin wird der Ausbruch hauptsächlich auf Asylsuchende aus Bosnien, Herzegowina und Serbien zurückgeführt. Dort wurden im vergangenen Sommer 2200 Masernfälle gemeldet. In Folge des Krieges im ehemaligen Jugoslawien gab es zwischen 1992 bis 1995 große Impflücken, sodass nur die Hälfte der Kinder in dieser Zeit geimpft wurde - sie sind jetzt leichte Opfer für die Viren. Erst seit zwei Jahren wird dort wieder die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angemahnte Impfquote von mindestens 90 Prozent erreicht.

2015 sollten die Masern in Deutschland ausgerottet sein. Das wird nicht gelingen

In Deutschland nahm die Impfbereitschaft im vergangenen Jahrzehnt immerhin zu. Waren 2004 noch 93,5 Prozent der Kinder zum Schulbeginn mit der ersten Dosis geimpft und 65,7 Prozent mit der zweiten, so wurden im Jahr 2012 schon 96,7 Prozent und 92,4 Prozent der Kinder geschützt. Damit ist die von der WHO empfohlene Impfquote von 95 Prozent für beide Dosen fast erreicht, die es braucht, um die Masern ausrotten zu können. Ursprünglich hatte Deutschland der WHO zugesagt, bis 2015 die Masern im eigenen Land besiegt zu haben, um so weltweit zum Ende der Seuche beizutragen.

Dass dies 2015 nicht gelingen wird, ist absehbar und das liegt auch an der Impfskepsis, die gerade in manchen gebildeten Kreisen und sogar unter einigen Kinderärzten verbreitet ist. "Meiner Meinung nach gefährden Eltern, die ihren Kindern Impfungen verweigern, das Leben ihrer Kinder massiv", schrieb Roald Dahl.

Etliche Mythen halten sich hartnäckig, beispielsweise dass es besser ist, die Krankheit "durchzumachen" und auf diese Weise das Immunsystem zu trainieren. Das können allerdings nur jene sagen, die ohne Schaden davongekommen sind. Zudem beschäftigt eine Impfung das Immunsystem genauso, ist aber mit weitaus weniger Risiken verbunden - siehe oben. Veranstalten Eltern "Masern-Partys", damit die Kinder sich anstecken, grenzt das an Körperverletzung und ist eher ein Trainingslager für Viren als für die Abwehrkräfte.

Auch das nicht auszurottende Märchen, wonach die Impfung Krankheiten wie Autismus und Morbus Crohn auslöst, ist längst widerlegt. Eine oft zitierte Studie von Andrew Wakefield aus dem Jahr 1998 bestand lediglich aus zwölf Teilnehmern und war grob gefälscht. Der Arzt war von Interessengruppen bezahlt worden, verlor seine Zulassung, die Publikation wurde zurückgezogen. Weil die Impfraten im englischsprachigen Raum nach 1998 drastisch zurückgingen und Menschen an Komplikationen der Masern starben oder erkrankten, wurde Wakefields Veröffentlichung als schlimmster Wissenschaftsbetrug der vergangenen 100 Jahre gebrandmarkt.

"Kinderkrankheiten sind kein Kinderkram", sagt Hübner. "Wir haben uns daran gewöhnt, sie auf die leichte Schulter zu nehmen. Vor 50, 60 Jahren, als Todesfälle und schwere Komplikationen noch häufig waren, wäre es keine Frage gewesen, dass alle Leute ihre Kinder hätten impfen lassen."

© SZ vom 12.02.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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