Studium:Jetzt studieren wir erst recht im Ausland!

Studentenwohnheim Johannes-Kolleg an der Hiltenspergerstraße 84 in Schwabing-West, internationales Wohnheim, das die Erzdiözese abreißen möchte. internationales âÄžFlairâÄœ

Trotz der angespannten Lage in Europa - was sich wohl nie ändert, ist das "multikulturelle Erasmus-Feeling" beim Studentenaustausch.

(Foto: Florian Peljak)
  • Trotz europaweiter Krisen floriert der Austausch im Studium - bei Studierenden und Forschern.
  • Nie waren so viele Studenten und Forscher aus dem Ausland an deutschen Unis.
  • 37 Prozent der Studenten hierzulande machen Auslandsaufenthalte, Semester und Praktika. Tendenz steigend.

Von Johann Osel

Erasmus? Nie gehört. Diese Reaktion provozierte Bianca Köndgen, als sie für ein Semester nach Spanien ging, an die Universität Oviedo. Man kann es den Lehrstuhlverwaltern und Dozenten nicht verübeln - das weltweit größte Förderprogramm für Auslandsaufenthalte war 1987 gerade erfunden. Köndgen, die in Trier Romanistik studierte, gehörte zur ersten Erasmus-Generation. Auch wenn ihr Semester ein Durchkämpfen war, ohne feste Erasmus-Pfade - die internationale Denkweise, das Überwinden von Vorurteilen, das beim Studentenaustausch zentral ist, hat auch die junge Frau erfahren. Etwa, dass ihr Gastort im rauen Nordspanien wenig mit dem Bild "von glühender Sonne, Strand und Flamenco" zu tun hatte; ebenso wenig wie "Deutschland nicht nur von lederbehosten Maßkrugschwenkern besiedelt ist, die Kuckucksuhren verkaufen", erinnert sich Bianca Köndgen, leicht westfälischer Zungenschlag, herzliches Lachen. Sie ist in der Folge zu einer Europa-Arbeiterin geworden, hat ihr Berufsleben Erasmus und dem Austausch in der Wissenschaft verschrieben.

Heute ist sie stellvertretende Leiterin des Referats für Internationale Angelegenheiten an der Uni Erlangen-Nürnberg, und sie weiß: "Was sich in fast dreißig Jahren Erasmus nicht geändert hat, ist die Begeisterung der Rückkehrer über den Auslandsaufenthalt, über das multikulturelle Erasmus-Feeling, über die bewegenden persönlichen Erfahrungen."

Ein schöner Satz in Zeiten, in denen Nachrichten sich lesen wie ein Krisen-Newsletter in Sachen Europa: Brexit, Ausnahmezustand in der Türkei, Griechenland und die Euro-Rettung, der Ukraine-Konflikt, die Flüchtlingskrise: Zäune, Misstrauen, Rechtsruck mancherorts, Ratlosigkeit auch. Und die Frage: Was passiert mit der großen Erfolgsgeschichte, die der europäische Studentenaustausch seit Ende des Kalten Krieges zweifelsohne geworden ist? Erasmus ist ja nicht nur ein Symbol für das Überwinden von Grenzen - sondern das Programm hat Europa in die Köpfe angehender gesellschaftlicher Eliten gebracht. Dauerhaft. Die Situation ist paradox. Da scheint Europa zu zerfallen. Andererseits: Der Austausch ist enger denn je.

Vor Kurzem haben Bundesbildungsministerin Johanna Wanka und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) ihren Bericht "Wissenschaft weltoffen" vorgestellt. Es ist jedes Jahr ein Konvolut der Rekorde. "In Zeiten, in denen es in vielen Ländern politische Strömungen gibt, die sich von mehr Weltoffenheit zu verabschieden scheinen, zeigen die Zahlen: Unsere Wissenschaft ist international verflochten", so Wanka.

Ein paar Auszüge: Nie waren so viele Studenten und Forscher aus dem Ausland an deutschen Unis. Mehr als drei Millionen Studenten sind europaweit mit Erasmus ins Ausland gegangen. "Erasmus Plus", so heißt das Programm seit einigen Jahren, hat die Zielgruppe erweitert. Auch beim Verwaltungspersonal sind Aufenthalte möglich, eine "Herzensangelegenheit" Köndgens übrigens. Und die Bologna-Reform, so viel Grummeln es beim Bachelor geben mag, hat eine Harmonisierung des Studiums gebracht, ist ein Treiber. Seit Beginn des Bologna-Prozesses 1999 hat sich die Zahl der jährlichen Erasmus-Aufenthalte von deutschen Studenten verdoppelt (was auch an steigenden Studentenzahlen liegt). 37 Prozent der Studenten hierzulande machen Auslandsaufenthalte, Semester und Praktika. Das könnten mehr sein, aber: Tendenz steigend. Europa lebt an den Hochschulen.

Erasmus als "Bindemittel zwischen den Ländern"

Zu Besuch bei Bianca Köndgen in Erlangen, in ihrem Büro erkennt man gleich, was das Beste an ihrem Job ist - nicht die vielen Ordner, regalmeterweise. Nein, es sind Postkarten, aus halb Europa, da steht dutzendfach "Danke" drauf. Nach ihrer Rückkehr aus Spanien war Köndgen freiwillig Austausch-Managerin geworden. Noch als Studentin gründete sie in Trier mit Kommilitonen eine Anlaufstelle für Gaststudenten, so etwas hatte es in Spanien nicht gegeben. Ein Café haben sie eingerichtet mit selbstgezimmerter Theke und waren einfach da, für Sorgen, Nöte, zum Plaudern und Skatspielen. Das Wort Willkommenskultur war da noch nicht erfunden. Heute gibt es an fast allen Unis Menschen, die professionell für Gäste sorgen, Köndgen hat das ja zum Beruf gemacht, es gibt Tutoren, Infoabende, Kurse, Netzwerke und Partys. Erfolgsgeschichte eben.

Will man mit Bianca Köndgen über ebnejene sprechen, räumt sie aber erst mal damit auf, dass alles reibungslos läuft. Sie hat beobachtet, wie "Überbürokratisierung" Erasmus ausbremst. Die Lernziel-Vereinbarungen zwischen Hochschulen etwa - früher eine Seite, heute sind es acht. Verwalten, abheften, Rechenschaft ablegen, das alles fresse Beratungszeit.

In den Städten schwindet der europäische Geist

Auslaufendes Sommersemester, im Köndgens Amt herrscht Publikumsverkehr, die meisten brauchen Stempel. Ausländer kommen oft mit Problemen, ein Fahrradunfall, eine verbockte Prüfung, Geld. Im Erasmus-Stipendium fließen nur bis zu 300 Euro monatlich. Hiesige Studenten wollen sich informieren - wobei Köndgen und Kollegen erwarten, dass sie sich vor der Beratung im Netz eingelesen haben, Vorstellungen mitbringen. "Die Leute lesen heute nicht mehr und wollen alles auf dem Silbertablett", sagte sie. Irgendwo sind die Grenzen erreicht, rein personell. Wobei der Bedarf ein gutes Zeichen ist: Erasmus funktioniert. Bis jetzt. Alle, die mit dem Austausch zu tun haben, verbreiten eine Jetzt-erst-recht-Stimmung. Das sei ein "Bindemittel zwischen den Ländern", sagt ein altgedienter DAAD-Experte. Die heutige Jugend, wenn sie europäisch denke, werde sich politisch einbringen; so wie Generationen von Erasmus-Studenten seit Ende der Achtziger in politischen und gesellschaftlichen Stellungen angekommen sind.

Noch hat der kalte Wind im europäischen Haus nicht auf den Austausch umgeschlagen. Aber man spürt Brisen. Der Brexit dürfte, in puncto Erasmus, das kleinste Problem sein, auch Norwegen ist bei Erasmus dabei, ohne in der EU zu sein. Oder die Türkei. Da liegt der Fall anders, das Land dürfte als Gastland erst mal perdu sein. Die deutsche Hochschulrektorenkonferenz ist besorgt wegen der "Säuberung" nach dem gescheiterten Putsch - zulasten auch der Wissenschaft -, die "skrupellosen Einschnitte in die akademischen Freiheiten machen uns alle fassungslos". Vor dem Staatsstreich schon hat Köndgen Studenten betreut, die aus der Türkei nach Erlangen zurückkamen, aus Angst vor Terror. Es gibt Erasmus-Teilnehmer, die Plätze im nationalkonservativen Ungarn absagen. "Und ich habe Bedenken, wie unsere pakistanischen Master-Studierenden, die wir mit Erasmus nach Polen senden, dort behandelt werden", sagt Köndgen. Nicht unbedingt an den Hochschulen - sondern in den Städten, im Alltag. Wo der europäische Geist zusehends schwindet.

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