Expertentipps zum Übertritt:"Gymnasium und Noten sind kein Selbstzweck"

Mädchen in der Schule

Zukunftsangst der Kinder: Für viele Viertklässer ist die Phase des Übertritts mit Stress und Sorgen verbunden.

(Foto: Farina3000 - Fotolia)

Gelingt der Sprung auf die gewünschte Schulform? Das Thema Übertritt beschäftigt derzeit Viertklässler und deren Eltern. Grundschullehrer und Schulpsychologe Robert Roedern über Erwartungen von Eltern, Enttäuschungen von Kindern - und warum die jetzt getroffene Entscheidung nicht in Stein gemeißelt ist.

Von Johanna Bruckner

Reichen die Noten für die gewünschte weiterführende Schule? Welche Möglichkeiten gibt es jetzt noch, den weiteren Weg des Kindes zu beeinflussen? Anfang Januar werden an bayerischen Grundschulen die sogenannten Zwischeninformationen an die Viertklässler verteilt. Auch in anderen Bundesländern beschäftigt das Thema Übertritt im zweiten Halbjahr Schüler und Eltern. Schulpsychologen Robert Roedern gibt Tipps, wie Familien die schwierige Zeit am besten bewältigen.

SZ.de: Herr Roedern, wenn Sie nach Weihnachten in eine vierte Klasse gekommen sind - wie war da die Stimmung?

Robert Roedern: Das Thema Übertritt beschäftigt die Schüler nicht erst nach Weihnachten. Das hängt häufig mit dem Verhalten und den Vorstellungen der Eltern zusammen. Manche machen sich schon sehr frühzeitig Gedanken, wie es nach der vierten Klasse weitergehen kann. Da werden Erwartungshaltungen und Druck an die Kinder weitergegeben, bewusst oder unbewusst. Andere Mütter und Väter wiederum versuchen, das Thema komplett von ihrem Nachwuchs fernzuhalten.

Wie sollten Eltern das Thema Übertritt ansprechen?

Vor allem sollten Eltern nicht erst mit ihren Kindern über Schule ins Gespräch kommen, wenn die Vergabe der Zwischeninformation oder gar des Übertrittszeugnisses ansteht. Unter diesem Druck, der Sorge und Belastung, dass hier eine Entscheidung fürs Leben getroffen wird, stehen solche Gespräche unter keinem guten Stern. Ich würde mir wünschen, dass Eltern frühzeitig anfangen, mit ihren Kindern über schulisches Lernen nachzudenken. Was kannst du gut? Wo hast du Fortschritte gemacht? Was hast du dafür getan? Diese Fragen können dann dazu überleiten, das Kind irgendwann ganz direkt zu fragen: Wie stellst du dir deine weitere Zukunft vor?

Die scheint häufig vorgezeichnet durch die Noten, die das Kind erzielt.

Hier hilft es, sich bewusst zu machen, was eine Ziffer darüber aussagt, worin ein Kind gut ist und worin es vielleicht noch besser werden kann. Beim Übertritt allerdings entscheidet tatsächlich erst einmal der im Zeugnis erzielte Notendurchschnitt in Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht. Dabei würde es sich durchaus auch lohnen, die Einschätzungen der Lehrkraft oder die Wortbemerkungen zum Lern- und Arbeitsverhalten einzubeziehen. Darüber lässt sich eine bessere Entscheidung treffen, welcher weitere Weg die beste Aussicht auf Erfolg verspricht.

Wenn Eltern den Eindruck haben, dass die Vorstellungen des Kindes unrealistisch sind, dass seine Leistungen beispielsweise nicht fürs Gymnasium reichen: Sollten sie das offen ansprechen?

Es wird letztendlich schwierig sein, dem aus dem Weg zu gehen. Ich finde es wichtig, dass Eltern dann den Kontakt und ein offenes Gespräch mit den Kindern suchen. Sie nach ihren Vorstellungen über eine bestimmte Schulwahl fragen: Warum willst du aufs Gymnasium oder in die Realschule gehen? Die Antwort wird in den meisten Fällen sein: Weil meine Freunde dorthin gehen. Das ist das wichtige Kriterium für viele Kinder, weil es so konkret ist. Es fällt ihnen eher schwer, weit in die Zukunft zu denken. Hier können die Eltern helfend einspringen, ihren Kindern die verschiedenen Schulformen erklären. Und mit ihnen über ihre Fähigkeiten und Stärken sprechen - und darüber, auf welcher Schule diese am besten zum Tragen kommen.

Die Eltern haben meist schon eine ganz bestimmte Vorstellung, auf welche weiterführende Schule ihr Kind gehen soll.

Die Vorstellung der Eltern ist häufig sehr viel klarer und manchmal festgelegter als die der Kinder. Hier hilft es, sich selbst zu hinterfragen: Welche Erwartungen und Hoffnungen stehen hinter dem Wunsch, dass mein Sohn, meine Tochter aufs Gymnasium geht? Und welche Befürchtungen habe ich, wenn er oder sie auf eine Real- oder Mittelschule ginge? Oft steckt hinter der Festlegung auf eine bestimmte Schulform die Furcht, eine unumkehrbare Entscheidung zu treffen, die das ganze weitere Leben des Kindes vorzeichnet. Dabei ist das längst nicht mehr so.

Ein Wechsel von beispielsweise der Realschule aufs Gymnasium ist also problemlos möglich?

Er ist natürlich an eine Leistungssteigerung geknüpft. Es lässt sich jedoch immer wieder beobachten, dass es Kinder gibt, die sich zum Ende der vierten Klasse noch unheimlich schwer tun mit dem Lernen. Das muss jedoch nicht heißen, dass sich das in der Zukunft nicht ändern kann. Die Wege stehen noch eine Weile offen. Und ein mittlerer Schulabschluss, der weitere Bildungswege eröffnet, ist auf allen Schularten gleichermaßen zu erreichen.

"Viele Eltern sind verunsichert"

In welchen Fällen werden Sie als Schulpsychologe hinzugezogen?

Beim Thema Übertritt ist es überhaupt kein Muss, einen Schulpsychologen hinzuzuziehen. Aber viele Eltern sind verunsichert. In den meisten Fällen ist es sinnvoll, erst einmal mit dem Klassenlehrer, der Klassenlehrerin zu sprechen. Er oder sie hat das Kind über die letzten zwei Jahre sehr gut kennengelernt und kann in der Regel gut einschätzen, wie es arbeitet und lernt. Im Zweifelsfall kann danach noch das Gespräch mit der Beratungslehrkraft der Schule oder einem Schulpsychologen gesucht werden.

Sind Sie als Schulpsychologe der letzte Anker für Eltern, das eigene Kind doch noch aufs Gymnasium zu bringen?

Nein, so erlebe ich das nicht. Eltern, die mit dieser Erwartung zu mir kommen, würde ich rasch über meine Möglichkeiten informieren. Ich kann keinen Einfluss auf den Übertritt nehmen. Ich kann nur als Orientierungshilfe dienen und zusammen mit ihnen darüber nachdenken, wie das Kind bestmöglich gefördert werden kann. Allerdings ist Januar hierfür fast zu spät: Bis zur Vergabe des Übertrittszeugnisses im Mai sind realistischerweise keine großen Leistungssteigerungen mehr zu erwarten. Deshalb kann ich nur immer wieder dazu anregen: Interessiert sein am Lernen des Kindes. Und wenn etwas in die falsche Richtung läuft, sich frühzeitig Hilfe holen.

Üben Eltern heutzutage nicht häufig einen enormen Druck aus - weil Sie wissen, wie schlecht die Zukunftschancen des Kindes sind, wenn es auf die Mittelschule (Hauptschule in Bayern, Anm. d. Redaktion) kommt?

Was ich erlebe, sind Mütter und Väter, die sorgenvoll sind. Oft mag das daran liegen, dass sie um die Zukunftschancen ihres Kindes fürchten. Dabei gibt es immer wieder Beispiele von Schülerinnen und Schülern, die mit einem Mittelschulabschluss sehr erfolgreich sind. Was man auch nicht außer Acht lassen sollte: Die Anforderungen auf einem Gymnasium sind sehr hoch und können Kinder schnell überfordern. Eine andere Schulform kann für Kinder geeigneter sein, damit sie sich selbst als kompetent erleben, in ihren Fähigkeiten und Stärken wahrgenommen fühlen.

Die Anforderungen auf Gymnasien sind durch die G8-Reform noch einmal gestiegen.

Das ist eine zusätzliche Herausforderung. Wenn ich mir anschaue, wie Eltern schon in der Grundschule zu Ersatzlehrern werden, stelle ich mir und ihnen die Frage: Was ist das für ein Leben und Familienleben, das sich nur noch um Schule dreht? Gymnasium und Noten sind kein Selbstzweck. Und wenn Kinder eine Schulform verlassen müssen, weil sie den Anforderungen nicht gewachsen sind, ist die Frustration oft enorm hoch. Manche rutschen dann vom Gymnasium bis zur Mittelschule durch.

Gibt es auch Fälle, dass Kinder aufs Gymnasium könnten, aber sich die Eltern dagegen wehren?

Es gibt beides: Eltern, die selbst einen niedrigeren Bildungsabschluss haben und sich wünschen, dass es das eigene Kind mal besser hat. Und Eltern, die der Ansicht sind: Es reicht, wenn mein Kind den gleichen Bildungsabschluss erreicht wie ich. Auffällig ist, wie selten Kinder aus sozial schwächeren, bildungsferneren Schichten eine Gymnasialempfehlung bekommen. Über die gesamte schulische Karriere spielen die häusliche Lernumgebung und Unterstützung eine wichtige Rolle. Da sind manche Kinder von Beginn an benachteiligt.

Und das Problem wird im Verlauf der schulischen Karriere noch verschärft?

Eltern, die selbst nicht auf dem Gymnasium waren oder ihre Schulabschlüsse in anderen Ländern erworben haben, können ihren Kindern oft nicht im gleichen Maße beispielsweise bei den Hausaufgaben helfen wie Eltern mit Abitur. Und das Geld oder überhaupt das Bewusstsein für Nachhilfemöglichkeiten fehlt häufig. Nicht zuletzt ist bei manchen Müttern und Vätern auch die Angst da, dass sich das eigene Kind von einem entfernt, wenn es aufs Gymnasium geht.

Halten Sie eine Leistungsselektion nach der vierten Klasse für richtig?

Das kommt darauf an, in welcher Rolle Sie mich fragen: Als Lehrer und Schulpsychologe bin ich Beamter und Teil dieses Systems und versuche den Menschen zu helfen, sich darin bestmöglich zurechtzufinden. Als mündiger Staatsbürger würde ich andere Modelle bevorzugen. Ich habe jetzt wieder eine erste Klasse und es ist toll zu sehen, mit welcher Neugier und Lust Kinder lernen. Ich frage mich, wie es uns gelingt, diese so lange wie möglich zu erhalten - und ob Noten und Notendruck dabei hilfreich sind.

Robert Roedern hat selbst vierte Klassen unterrichtet, nebenbei arbeitet er bei der Staatlichen Schulberatung in Bayern als Schulpsychologe.

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