Ruhpolding und die Biathlon-WM:Wenn's ums Prestige geht, helfen alle mit

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Wenn das Sportstadion die Dorfkirche verdrängt: Das beschauliche Ruhpolding ist mit dem Biathlon groß geworden, zur WM werden 220.000 Zuschauer hier erwartet. Am Wachsen des Chiemgau-Arena kann man ablesen, wie rasant sich Biathlon entwickelt hat - und der Ort Ruhpolding. Das VIP-Zelt gleicht mittlerweile einem Palast.

Heiner Effern

Weil im Maibaumstüberl gerade Biathlon das Thema ist, setzt sich Valentin Kloiber, genannt Veit, noch schnell auf eine Halbe Bier dazu. Inoffiziell führt er den Titel "Entdecker von Fritz Fischer", das ist in Ruhpolding nicht nur in den Tagen vor der vierten Weltmeisterschaft im Ort ein Ehrentitel. Eigentlich soll der Veit berichten, wie er den jungen Kelheimer Fischer nach Ruhpolding lockte. Aber viel lieber erzählt er eine andere Geschichte, weil: "Die kennt noch keiner."

Es muss im Herbst 1976 gewesen sein, sagt der Veit, als der junge Soldat Fischer mit seinen Kameraden und seinem Entdecker-Trainer Kloiber auf der Winklmoosalm in den wartenden Bundeswehr-VW-Bus steigen will. Die Woche ist um, die Hütte besenrein, der Transporter steht mit offener Schiebetür vor der Haustüre. Der Fritz aber, sagt der Veit, kann natürlich nicht einsteigen wie die anderen. Der Fritz also, der nimmt in der Hütte von der Bar weg Anlauf, weil er mit einem mächtigen Satz direkt von der Haustür auf die Mittelsitzbank springen will. Leider ist er "mit dem Kopf zwölf Zentimeter zu hoch drangewesen", sagt der Veit. Die Platzwunden haben sie mit Handtüchern verbunden, um den Fritz möglichst schnell ins Tal nach Reit im Winkl zu bringen.

Geschichten über Fritz Fischer und Ricco Groß gehen immer gut in Ruhpolding, schließlich sind sie die beiden anerkannten Biathlon-Helden des Ortes und nun auch noch Nationaltrainer. Nebenbei: Schon die Tatsache, dass ein gebürtiger Kelheimer (Fischer) und ein gebürtiger Erzgebirgler (Groß) in dem Gebirgsdorf mit stark ausgeprägtem Selbstbewusstsein überhaupt einen solchen Status erlangen können, spricht für eine geradezu magische Integrationskraft des Biathlon-Sports. Besonders gut gehen solche Geschichten aber natürlich vor den am Mittwoch beginnenden Biathlon-Weltmeisterschaften, den vierten in Ruhpolding nach 1979, 1985 und 1996.

Wenn alles glatt geht, dann könnten es die größten in der Biathlon-Geschichte werden: Gut 220.000 Zuschauer erwarten die Veranstalter; für die alpine Ski-WM in Garmisch-Partenkirchen vor einem Jahr wurden 130.000 Tickets verkauft. 1100 ehrenamtliche Helfer aus dem Ort und der Region werden im Einsatz sein, allein 250 kümmern sich um die Verpflegung der Zuschauer im Stadion. 8000 Liter Glühwein, 1500 Kilogramm Leberkäse, 50.000 Semmeln und Brezen stehen bereit. Das alles in einer Arena, die für 16,4 Millionen Euro für die Weltmeisterschaften fast neu gebaut wurde.

Claus Pichler kennt das Stadion noch in seinem Urzustand, als hinter dem Schießstand ein paar hundert Zuschauer herumstanden. Es gibt ein Foto von der ersten Ruhpoldinger WM 1979, auf dem geht der Abiturient Pichler als Betreuer neben einem Taferl-Bua, das sind die Buben aus dem Ort, die beim Einzug der Mannschaften das Schild mit dem Nationennamen tragen. Pichlers verstorbener Vater Hans war von Beginn an zuständig für die Heimat dieser damals kaum beachteten Sportart unterm Zirmberg, auf die Ruhpolding Mitte der 1970er Jahre setzte. "Der Papa ist jeden Herbst in einer Baustelle gestanden", sagt Pichler.

Am Wachsen des Stadions konnte man ablesen, wie rasant sich Biathlon entwickelte. Für die Weltmeisterschaften 1996 baute Ruhpolding ein neues Stadion, von dem 2012 nur noch Fundamente übrig sind. Pichler war bei allen drei Weltmeisterschaften als ehrenamtlicher Helfer dabei, am Mittwochabend wird er als Bürgermeister im Kurpark Athleten und Betreuer aus 45 Nationen empfangen.

Impressionen aus dem Biathlon-Camp
:"Im Training bin ich eine Sau"

Impressionen aus dem Biathlon-Camp

Wer könnte also besser über Biathlon und die Bedeutung für Ruhpolding sprechen? Pichler empfängt im rustikalen Sitzungssaal des Rathauses, Ölbilder seiner Vorgänger hängen an der Wand. Biathlon ist staatstragend in Ruhpolding. Der Sport sorgt in Weltcup-Jahren im gefürchteten Januarloch für volle Häuser und liefert die TV-Bilder, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen. "Wir müssen mit dem Tourismus wieder Geld verdienen. Da hilft Biathlon", sagt der Bürgermeister. Denn Ruhpolding lebt seit Jahrzehnten vom Fremdenverkehr, aber lange nicht mehr so gut wie noch vor Jahrzehnten: Die Übernachtungszahlen sind von einer satten Million auf 680.000 pro Jahr gefallen.

Vom Stadion für die WM 1996 sind heute nur noch ein paar Fundamente übrig, mittlerweile haben 16.000 auf den riesigen Stahlrohrtribünen vor dem Schießstand Platz. (Foto: dpa)

Das geht an die Existenz, auch wenn heute die Zahl der Betten deutlich niedriger ist als zu den besten Zeiten. Weniger Gäste sorgen für weniger Steuereinnahmen, doch die Kommune muss das Wellenhallenbad, das Kurhaus, zwischenzeitlich sogar den letzten Sessellift am Leben erhalten, damit nicht noch mehr Gäste wegbleiben.

Wie sich das anfühlt, Geld zu verdienen mit Tourismus, das wissen die alten Ruhpoldinger noch. Schließlich gilt der Ort als Ursprung des Pauschaltourismus in Deutschland. Der Reisebürobesitzer Degener aus Berlin fragte 1933 an, ob er wegen der Ausreisegebühr der Nazis nach Österreich einen Sonderzug mit 500 Touristen nach Ruhpolding umleiten könne. Das ginge schon, beschieden ihm die Ruhpoldinger, irgendwie. Zug um Zug brachte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Gäste aus Norddeutschland in den Ort. Die Blaskapelle empfing sie, die Kinder und manchmal auch die Eltern räumten ihre Zimmer, um sie an Touristen zu vermieten. Die Gäste wurden rundumversorgt: Cowboy-Überfälle in einem Gebirgstal wurden ebenso angeboten wie ein Zahnarzt-Notdienst.

Die erste Hilfe ging manchmal so weit, dass Boulevard-Blätter vom "Lederhosen-Sex" schrieben, der Touristen in das "sündige Dorf" ziehe. Das erste Wellenhallenbad der Alpen wurde eröffnet, beim Pressetermin sprangen ein paar Models oben ohne ins Becken, der Ort warb mit "Ruhpacabana". Die Frankfurter Allgemeine sah bei den Ruhpoldingern 1972 "ein sagenhaftes Talent, sich publikumswirksam zu verkaufen". Sie rühmte "ihr offenbar spezifisch ruhpoldingerisches Naturell, das eine höchst produktive Mischung aus Originalität, Phantasie, Schläue und Geschäftssinn darstellt".

Zwischenzeitlich scheinen diese Fähigkeiten verschüttet gewesen zu sein, der Anschluss an den modernen Tourismus ging verloren. Sie lebten gut und investierten zu wenig. Doch beim Aufbau des Biathlon-Standortes kamen die alten Tugenden wieder zum Vorschein. Zehntausende Menschen werden nun an den WM- Tagen im Ort sein. Wenn das Stadion ausverkauft ist, müssen 30.000 Zuschauer mit einem ausgeklügeltem Bussystem sechs Kilometer hinausgefahren werden.

Allein 16.000 finden auf den riesigen Stahlrohrtribünen vor dem Schießstand Platz. Das VIP-Zelt ist kein Zelt mehr sondern ein mobiler Palast, in dem die Biathleten auf zwei Ebenen problemlos ihre Strafrunde laufen könnten. Etwa sieben Millionen Euro wird die WM kosten, sie soll sich selbst tragen. Doch die Bewirtung im Champions-Park haben immer noch die Vereine im Griff. Und von den Leberkäs-Semmeln im Stadion profitiert der Nachwuchs des SC Ruhpolding.

Im Maibaumstüberl versucht Ortsheimatpfleger Franz Ringsgwandl zu erklären, warum sich Kommerz und Dorfleben hier noch vereinbaren lassen: "Weil jeder Biathlon mag, und weil es langsam gewachsen ist." Und weil die Gemeinschaft im Talkessel intakt ist: "Wenn es ums Persönliche geht, wird gestritten wie überall. Wenn es ums Prestige geht, hilft das ganze Dorf mit." Bei der 600-Jahr-Feier der Schützen war das so, beim 250. Patrozinium der Pfarrkirche St. Georg, und es wird auch bei der WM so sein. Im Kern der Menschen hier, sagt Ringsgwandl, steckt ein traditioneller Stolz, der sie zusammenhält.

Wer diesen Stolz verletzt, wird bitter bestraft. Das zeigt die Geschichte des früheren Bürgermeisters Andreas Hallweger von der CSU. Das war kein schlechter, sagen sie noch heute in Ruhpolding, aber er hat vor lauter Regieren und Landrats-Träumen und Ortsumgehung-Bauen das Gefühl für die alltäglichen Anliegen seiner Bürger verloren.

Das vergisst der Ruhpoldinger nicht: Dass sein Gegner Pichler fast mit Zweidrittelmehrheit gewählt wurde, da sind die Ruhpoldinger aber doch ein bisschen über sich selbst erschrocken. Nun begrüßt eben der SPD-mann Pichler die Welt in Ruhpolding. Als studierter Anglizist sogar in fließendem Englisch.

© SZ vom 28.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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