Denkmal:Landshuter Stiftsbasilika bröckelt wieder

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Die Kirche Sankt Martin und die Stadt gehen seit Jahrhunderten eine Symbiose ein. In den Siebzigerjahren neigte sich der Turm, nun sind die gotischen Fenster vom Einsturz bedroht.

Von Hans Kratzer

Vor gut 50 Jahren hat der Volkssänger Jakob Roider am Stammtisch von einem Ausflug erzählt, der seine Eltern und ihn nach Landshut führte. Der Vater habe sich zum Saumarkt begeben, sagte Roider, die fromme Mutter aber habe mit ihm die Martinskirche aufgesucht, um dort zu beten. Die Kunstwerke in dieser Kirche hätten seine Mutter rein gar nicht interessiert, fuhr Roider fort. Größer als die Kirche im Heimatdorf Weihmichl sei die Martinskirche zwar schon, habe die Mutter erklärt, aber schöner sei sie gewiss nicht. Mit diesem klaren Urteil brachte die gute Frau Roider eine Überzeugung zum Ausdruck, die manche heute noch teilen: Eine gotische Kirche wie St. Martin, der jegliche Üppigkeit in der Ausstattung fehlt, wirkt nach deren Geschmack geradezu armselig im Vergleich zur Prachtfülle einer bayerischen Barockkirche.

Natürlich wird ein solches Verdikt einem Wunderwerk wie der mehr als 500 Jahre alten Stiftsbasilika in keiner Weise gerecht. St. Martin zählt zweifellos zu den bedeutendsten Kirchenbauten in Bayern, allein ihr gut 130 Meter hoher Ziegelturm sucht in der Welt seinesgleichen. Schon der Ort am Eingang zur Landshuter Altstadt ist genial gewählt. Der Schriftsteller Wilhelm Hausenstein wollte einst sogar schwören, "dass ich nie eine Kirche schöner habe dastehen sehen." Doch soviel Anmut fordert ihren Preis. Wer zurzeit die Kirche mit ihren hohen und schlanken Strukturen betritt, sieht den Innenraum voller Gerüste. Die ehrwürdige Basilika St. Martin bröckelt wieder einmal.

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Die Stiftsbasilika Sankt Martin ist seit Jahrhunderten eine Dauerbaustelle. Nun sind die gotischen Fenster einsturzgefährdet.

Eine Notsicherung soll verhindern, dass die 18 Meter hohen Fenster bei einem Sturm aus der Mauer brechen. An den Lisenen öffneten sich Brüche und Risse, warum die Fenster so ungewöhnlich stark schwingen, darüber zerbrechen sich Statiker, Bauphysiker und Architekten gerade die Köpfe. Im September soll eines der Fenster ausgebaut und genau untersucht werden. "Die Sanierung wird mindestens drei Jahre dauern", sagt Monsignore Franz Joseph Baur, der Stiftspropst von St. Martin. Die Probleme sind wohl eine Folge der filigranen Bautechnik aus der Zeit der Gotik. "Alles ist sehr dünn hier", sagt der Kirchenpfleger Hubert Gruber. Und doch hat alles mehr als ein halbes Jahrtausend gehalten, eine Konstanz, die für Bauwerke der Jetztzeit eine reine Utopie darstellt.

Den Turm von St. Martin zu erklimmen, lohnte sich in jedem Fall, ob man nun barockverliebt und christgläubig ist oder nicht. Nur ist das seit einem Jahrzehnt nicht mehr möglich, laut EU-Recht sind die Voraussetzungen für einen öffentlichen Zugang nicht mehr gegeben. Deshalb führt der Kirchenpfleger höchstens noch in Ausnahmefällen ein paar Journalisten auf den Turm. Über 486 abgewetzte Stufen müssen sich die Besucher nach oben plagen, immer Gefahr laufend, sich an den Rändern der engen Wendeltreppe die Ellbogen aufzuschürfen.

Als Belohnung aber wartet nach dem Kraftakt eine grandiose Aussicht. Von der auf gut 100 Metern Höhe schwebenden Turmgalerie schweift der Blick über die Alt- und Neustadt weit hinaus in das Umland, wo sich zum Beispiel im Nordwesten der Ganslberg erhebt, auf dem der Weltkünstler Fritz Koenig residierte. Im Nordosten prägt das Atomkraftwerk Ohu die Silhouette, entlang der Isar erstrecken sich die Gewerbegebiete bis hinauf zum Münchner Flughafen. Längst atmet die 70 000-Einwohner-Stadt nicht mehr nur den Geist des Mittelalters, auch wenn das Zentrum in seiner Anlage noch dem gotischen Grundkonzept entspricht. Das ungezügelte Wachstum im Münchner Umland hat auch Landshut erfasst, was die Stadt prosperieren lässt, ihr aber auch Wohnungsnot, Verkehrsprobleme und eine starke Zuwanderung beschert.

Hoch oben auf dem Kirchturm fühlt sich der Besucher allen irdischen Problemen sofort entrückt - ähnlich wie der Turmfalke, der gerade mit einer Sehnsucht erweckenden Leichtigkeit um die alten Mauern schwebt. "Hier ist der Mensch dem Himmel in jeder Hinsicht nahe", resümiert Gruber, dessen Katholischsein schon auch sehr vom Mysterium dieses Bauwerks inspiriert ist, wie er zugibt.

Der Kirchenpfleger legt in ruhig gesetzten Worten seine Gedanken dar, die von der Gewissheit getragen sind, dass der Mensch im Schatten dieser Kirche lediglich ein Winzling ist, der obendrein allerlei Ermahnungen bedarf. Eine solche ziert in Form einer mit einem Totenkopf garnierten lateinischen Inschrift den Ausgang zur Aussichtsgalerie: "Sie richtet sich an mögliche Selbstmörder, ihre Absicht zu überdenken", sagt Gruber.

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Ansonsten aber preist der Turm an jeder Ecke das Genie der Baumeister und Handwerker, die ihre Konstruktionen ja nur mit Lot, Winkelmaß und Zirkel berechnen konnten. Im Laufe der mehr als ein Jahrhundert währenden Bauzeit hinterließen sie eine Menge Graffiti und Inschriften. In der östlichen Kirchenmauer prangt ein steinerner Männerkopf, dessen Miene markant und sorgenvoll wirkt. Auch das ist einzigartig im Kirchenbau, dass einer der Baumeister, Hanns von Burghausen, im Porträt verewigt wurde.

Auf dem Weg nach oben passiert man zwei riesige Treträder, das obere ist nach einem halben Jahrtausend immer noch funktionstüchtig. Mit ihrer Hilfe wurden einst Schwerlasten in die Höhe befördert. So heftig die Zeit gegen diese Relikte brandet, so beharrlich stemmen sie sich dagegen, weil sich immerzu Menschen um den Erhalt gekümmert haben. Auch Gruber, 62, zählt zu dieser ehrbaren Riege. Er ist Landshuter von Geburt und aus Leidenschaft, für einen wie ihn ist diese Kirche untrennbar mit der eigenen Biografie verknüpft. Dabei entspricht er nicht unbedingt der gängigen Vorstellung von einem Kirchenpfleger, unter anderem ist er Mitglied der Rockband Uric Acid und spielt eine tragende Rolle in der Landshuter Kulturszene.

Das Kirchenamt erdet ihn, weil es Last und Verantwortung mit sich bringt. Vor allem, wenn die Basilika wieder einmal bröselt, was kaum verwunderlich ist. Im Grunde genommen stellt St. Martin eine bautechnische Unmöglichkeit dar. "Die Landshuter haben den Turm viel weiter in die Höhe getrieben, als es damals vorstellbar war", sagt Gruber. Tatsächlich ging die Bürgerschaft beim Bau ein hohes Risiko ein, das Landshuter Selbstbewusstsein war schon damals vital. Fast zwei Millionen Ziegel wurden allein für den Turm verbaut. "Sie wollten halt den Herzögen auf der gegenüber liegenden Burg Trausnitz in die Suppenschüssel schauen können", zitiert Gruber ein beliebtes Bonmot.

In den 1970er Jahren begann sich der Turm plötzlich zu neigen. Der Grund lag auf der Hand: Das Fundament ruhte auf Tausenden Tannenpfählen, die beim Bau im 15. Jahrhundert in den Schwemmgrund der Isar gerammt worden waren. Durch die Regulierung der Isar sank das Grundwasser, die Holzpfähle begannen zu faulen. Mit großem Aufwand wurden Stahlkörper in den Untergrund gesetzt und mit Beton verfüllt, bis der Turm wieder gerade stand.

Neben diesem Wunderwerk der Technik beherbergt das filigran konstruierte Kirchenschiff auch Wunderwerke der Kunst. Etwa das acht Meter hohe, aus einem einzigen Lindenstamm geschnitzte Kruzifix, das frei im Chorbogen hängt. Oder die im rechten Seitenschiff platzierte Rosenkranzmadonna des Bildschnitzers Hans Leinberger. So mancher Kunsthistoriker sah in dieser Madonna das Antlitz des Landes, dem sie entstammt - ernst, mild und herrscherlich zugleich, es könnte einer niederbayerischen Bäuerin gehören. Dementsprechend gilt sie als eine Hiesige, deren Magie viele Menschen anlockt, die bei ihr wie eh und je Trost suchen und ihre Anliegen vorbringen.

Alles in allem bündeln sich in dieser Kirche die Lebensfreude, die Nöte, aber auch die Abgründe einer ganzen Region. Nicht jeder begegnet diesem großen Erbe mit Respekt. Einen schmalen Durchgang neben dem Hauptportal passierend, gelangt man auf den alten, aufgelassenen Martinsfriedhof, eine stille Oase im Stadtraum. Spätnachts verkriecht sich hier sowie in den Portalen der Kirche gerne ein enthemmtes Völkchen, um sich zu paaren, die Notdurft zu verrichten oder Radau zu machen. St. Martin ist ein Monument des Glaubens und des Bürgerstolzes. Und doch haftet gerade an diesem Bauwerk das ganze Spektrum menschlicher Existenz.

© SZ vom 30.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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