Kaufbeuren:Anarchie im Gerichtssaal - Angeklagte klaut Akten

Kaufbeuren: Screenshot Youtube.

Screenshot Youtube.

  • Während einer Verhandlung schnappen sich Störer Akten und machen sich ungehindert mit der Angeklagten davon.
  • Die Gruppe gehört zur Szene von Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen, die den Staat nicht anerkennen.
  • Solche Personen traten in der Vergangenheit immer wieder in Erscheinung. Der bayerische Verfassungsschutz hat die Reichsbürger-Szene insgesamt im Blick, beobachtet aber nur eine kleine Gruppe in aller Form.

Von Stefan Mayr und Matthias Köpf, Kaufbeuren/München

Der Mann mit der schwarz-weiß gemusterten Weste, den grauen langen Haaren und dem Vollbart tritt überaus selbstbewusst auf. Mitten in einer Verhandlung vor dem Amtsgericht Kaufbeuren steht er auf, geht von der Zuhörerbank auf die Richterin zu und ruft: "Sie sind verhaftet!" Auch andere Zuhörer erheben sich und reden laut dazwischen.

Im Tumult geht die Angeklagte hinter den Richtertisch, nimmt die Akte und wirft sie dem langhaarigen Wortführer zu. Nach einigen Minuten verlassen die etwa 20 Störer den Saal. Sie nehmen die Akte mit. Die drei herbeigerufenen Wachtmeister der Justiz können den Diebstahl nicht verhindern.

Es ist eine bizarre Szene, die sich da mitten im sonst so beschaulichen Allgäu abgespielt hat: Eine Gruppe von zumeist älteren Herren und zwei jüngeren Frauen sprengt eine Gerichtsverhandlung, stiehlt unter den Augen mehrerer Justizbediensteter eine Akte und wird nicht daran gehindert, damit das Gebäude zu verlassen. Einer aus der Gruppe filmt das Geschehen sogar noch und stellt es ins Internet, ohne einen Beteiligten unkenntlich zu machen.

Die Störer erkennen die Bundesrepublik nicht an

Der Vorfall hat sich bereits am 20. Januar abgespielt, aber erst jetzt ist er publik geworden: Anfang März wurde das Video auf Youtube veröffentlicht. Bei den Störern handelt es sich offenbar um Vertreter einer Gruppe, die die Bundesrepublik nicht als legitimen Staat anerkennt und deren Institutionen ablehnt.

Solche Personen traten in der Vergangenheit immer wieder in Erscheinung. Vor allem vor Gericht äußern solche Angeklagten, dass sie weder den Richter noch das Urteil akzeptieren. Aber einen derartig massiven Übergriff hat es in Bayern noch nicht gegeben, selbst das Justizministerium bezeichnet ihn als "ohne Beispiel".

Eine Sprecherin des Amtsgerichts Kaufbeuren berichtet, dass in Prozessen "vermehrt" Menschen auftreten, die staatliches Recht als "für sie nicht gültig betrachten". Sie nennt einige Gruppierungen beim Namen: Freemen, One People Publics Trust, Reichsbürger, Germaniten. Die Szene ist unübersichtlich, doch gemeinsam ist den meisten Gruppen, dass sie die Bundesrepublik als bloße Firma ansehen, die von außen gesteuert werde.

Nicht alle Beamten halten Distanz zu diesen Gruppen

Der bayerische Verfassungsschutz hat nach eigenen Angaben die Reichsbürger-Szene insgesamt im Blick. In aller Form beobachtet er derzeit aber nur die kleine Gruppe "Exilregierung Deutsches Reich" wegen ihrer völkisch-rechtsradikalen Ideologie. Viele andere Gruppen bestehen überwiegend aus Esoterikern und Verschwörungstheoretikern, dies aber oft mit antisemitischen Anklängen.

Zahlreiche Mitglieder setzen ihre angebliche "Reichsbürgerschaft" auch schlicht als Begründung dafür ein, Bußgelder oder Steuern nicht zu bezahlen. Im Internet finden sich Videos, in denen Gerichtsvollzieher auf renitente "Reichsbürger" treffen.

Zugleich halten auch nicht alle Beamten Distanz zu diesen Gruppen: Mitte Februar hat ein Polizist, der bis dahin Seminare im Fortbildungsinstitut der bayerischen Polizei in Ainring gegeben hatte, einen Vortrag vor der "Heimatgemeinde Chiemgau" gehalten. Der Beamte ist inzwischen vom Dienst suspendiert, das Disziplinarverfahren dauert an.

Höhnisches Gelächter - "Ich gehöre nicht zum Personal der Finanzagentur Deutschland"

Kaufbeuren: Screenshot Youtube.

Screenshot Youtube.

(Foto: Youtube)

Die Angeklagte vor dem Amtsgericht sagt auf die Frage nach ihrer Anschrift: "Ich bin nirgends gemeldet, ich gehöre nicht zum Personal der Finanzagentur Deutschland." Welcher Gruppierung sie und ihre Mitstreiter angehören, können weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft sagen. Im Prozess geht es um etwas vergleichbar Harmloses: Die Frau muss sich wegen Fahrens ohne Führerschein verantworten.

Sie ist Wiederholungstäterin und wegen Drogenhandels vorbestraft. Als der Staatsanwalt in seinem Plädoyer eine Haftstrafe beantragt, brechen die Störer in höhnisches Gelächter aus. Dann folgt der Auftritt des selbsternannten Richters mit den langen Haaren. "Herr Staatsanwalt, Sie kommen vor den Kadi!", ruft er. Und: "Die Akten sind beschlagnahmt."

Die Männer üben keine körperliche Gewalt aus. Dennoch wirkt ihr Auftritt alles andere als harmlos. Die drei Sicherheitskräfte wirken eher ratlos und darauf bedacht, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Auch die Richterin verhält sich defensiv: Obwohl Filmaufnahmen und Zwischenrufe bei Gerichtsverfahren nicht zulässig sind, ruft sie die Störer nicht zur Ordnung. Zwischenzeitlich verlässt sie sogar den Raum.

"So einen massiven Fall habe ich noch nicht erlebt"

Dies nutzt die Angeklagte, um sich die Akte zu schnappen. Später verlassen die Störer den Saal - mitsamt der Akte und der Angeklagten. Die Beschuldigte wird danach in Abwesenheit zu acht Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Das Urteil ist nach Gerichtsangaben inzwischen rechtskräftig, die Frau habe die Haft aber noch nicht angetreten.

Die Staatsanwaltschaft Kempten ermittelt nun wegen Diebstahls und Strafvereitelung. "Es kommt immer öfter vor, dass Personen das Gericht nicht anerkennen", sagt Staatsanwalt Bernhard Menzel, "aber so einen massiven Fall habe ich noch nicht erlebt." Die Gerichtssprecherin betont, die Angeklagte und ihre Begleiter hätten ihr Ziel, ein Verurteilung zu verhindern, nicht erreicht.

Dennoch räumt das Justizministerium indirekt ein, dass die Reaktionen der Justizbediensteten nicht optimal waren: Nach dem Vorfall habe es "auf mehreren Ebenen Gespräche" gegeben, um die Kooperation von Polizei und Justiz in vergleichbaren Fällen "zu verbessern". Mit Fortbildungen soll "vermieden werden, dass es künftig zu Überrumpelungssituationen kommen kann".

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