Fall Ursula Herrmann:"Kaltblütig und grausam"

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Viele Indizien, umstrittene Beweise, ein zurückgezogenes Geständnis: Im Prozess um den Tod von Ursula Herrmann fordert die Staatsanwältin lebenslange Haft, die Verteidiger Freispruch.

Hans Holzhaider

Der Beginn des 55. Verhandlungstages im Prozess um die Entführung und den Tod der zehnjährigen Ursula Herrmann mag für den Angeklagten Werner M., 59, symbolisch gewesen sein: Das Tor der Justizvollzugsanstalt in der Augsburger Karmelitergasse wollte sich nicht öffnen lassen, um den Gefangenentransport durchzulassen. Die Verhandlung musste mit Verspätung beginnen.

Vier Stunden später weiß Werner M., dass die Gefängnistore sich möglicherweise für sehr lange Zeit nicht mehr für ihn öffnen werden: Staatsanwältin Brigitta Baur beantragt, den Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge zu lebenslanger Haft zu verurteilen. "Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten gibt es für mich nicht", sagt sie. Sie kenne kein anderes Verbrechen, bei dem ein solches Maß an Kaltblütigkeit und Grausamkeit zutage getreten sei. Angesichts dieser Schuld komme für den Angeklagten nur die Höchststrafe in Frage.

Für die ebenfalls angeklagte Ehefrau Gabriele F.-M. beantragte die Staatsanwaltschaft Freispruch. Sie sei zwar Mitwisserin, ein eigener Tatbeitrag sei ihr aber nicht nachzuweisen. Die Verteidiger Walter Rubach und Wilhelm Seitz beantragten, Werner M. nach dem Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" freizusprechen.

Das Plädoyer ihres Lebens

Für Brigitta Baur war es zweifellos das Plädoyer ihres Lebens, und die Prozessbeteiligten bekamen eine Schlussvortrag von großer Klarheit, Präzision und analytischer Kraft zu hören. Schritt für Schritt führte sie ihre Zuhörer durch die Ergebnisse der 55-tägigen Beweisaufnahme, Stein auf Stein setzte sie die Indizien zu einem schließlich sehr stabilen Anklagegebäude zusammen.

Die Überzeugung der Staatsanwältin von der Schuld des Angeklagten stützt sich auf zwei Säulen: das Geständnis, das ein schon vor Jahren gestorbener Zeuge und mutmaßlicher Mittäter abgelegt hat, und das Tonbandgerät, das im Oktober 2007 im Haus des Angeklagten gefunden wurde. Um diese beiden zentralen Beweismittel gruppiert sich eine Reihe zusätzlicher Indizien, von denen jedes für sich allein genommen sicherlich nicht als Schuldnachweis gelten könnte.

Im Februar 1982 hatte der 37-jährige arbeitslose Mechaniker Klaus Pfaffinger bei der Polizei ausgesagt, er habe im Auftrag des Angeklagten das Loch gegraben, in dem später die Kiste mit dem Leichnam Ursula Herrmanns gefunden wurde. Dieses Geständnis hatte er allerdings noch am selben Tag widerrufen.

"Es gab keinen Grund für ein falsches Geständnis"

Staatsanwältin Baur kam in ihrem Plädoyer zu dem Schluss, das Geständnis habe den Tatsachen entsprochen, Pfaffinger habe das Loch tatsächlich gegraben und darüber hinaus dem Angeklagten bei der Entführung und beim Verbringen des Mädchens in die Kiste geholfen. "Es gab keinen Grund für ein falsches Geständnis", sagte Baur.

Alle nachgeschobenen Erklärungen Pfaffingers seien absurd. Darüber hinaus habe er eine ganze Reihe von Details erzählt, zum Beispiel über die Bodenbeschaffenheit und die Größe und Form des Lochs, die mit den Tatsachen übereinstimmten, und er sei in den Tagen vor der Entführung von mehreren Zeugen beobachtet worden, wie er mit seinem Moped unterwegs war und einen Spaten dabeihatte.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Rolle ein altes Grundig-Tonbandgerät in dem Prozess spielt.

Das alte Grundig-Tonbandgerät, das bei Werner M. beschlagnahmt wurde, ist nach Überzeugung der Staatsanwältin das Gerät, das bei den Anrufen verwendet wurde, mit denen der Täter von der Familie des entführten Mädchens zwei Millionen Mark erpressen wollte.

Bei diesen "Schweigeanrufen" waren lediglich einige Schaltgeräusche und das Erkennungssignal des Senders Bayern 3 zu hören - der höchste und lauteste Ton klang allerdings seltsam gedämpft. Mit dem beschlagnahmten Gerät sei es nach jahrelangen Versuchen erstmals gelungen, die Entstehung dieser Tonanomalie plausibel zu machen, sagte Baur. Es sei "geradezu frappierend, dass trotz einer Vielzahl von Unwägbarkeiten eine so hohe Übereinstimmung entstehen kann".

Hinzu komme, dass die Angabe des Angeklagten, er habe das Gerät auf einem Flohmarkt gekauft, "frei erfunden und in allen Punkten widerlegt" sei. Kein einziger der zahlreichen Zeugen, die auf dem besagten Flohmarkt Waren anboten, konnten sich an Werner M. oder ein Tonbandgerät erinnern, einige schlossen es sogar ausdrücklich aus, dass dort ein solches Gerät angeboten wurde.

Ein weiteres Indiz, das für eine Täterschaft des Angeklagten spricht, ist Baur zufolge ein Fernglas, das in der Nähe des Tatorts gefunden wurde, und die beiden aus Zeitungsbuchstaben zusammengesetzten Erpresserbriefe. Werner M. hatte bei früheren Vernehmungen stets bestritten, ein solches Fernglas besessen zu haben. Mehrere Zeugen hatten aber ein ebensolches in seiner Wohnung gesehen, und auch Werner M.s Ehefrau und jetzige Mitangeklagte Gabriele F.-M. hatte später den Besitz bestätigt.

Rechtlich bewertete Staatsanwältin Baur die Tat als erpresserischen Menschenraub mit Todesfolge, weil M. nicht nachzuweisen sei, dass er den Tod Ursula Herrmanns gewollt oder billigend in Kauf genommen habe. Er habe ihren Tod aber leichtfertig verursacht, weil die Kiste, in der Ursula begraben war, mit einem nicht funktionsfähigen Lüftungssystem ausgestattet war.

"Stellen Sie sich die Angst der zehnjährigen Ursula vor"

Strafmildernde Umstände konnte die Staatsanwältin nicht erkennen - im Gegenteil: "Mir ist kein Verbrechen dieser Art bekannt, das so grausam begangen wurde. Stellen Sie sich die Angst der zehnjährigen Ursula vor, die in eine Kiste gesperrt und lebendig begraben wurde."

Mit Spannung war erwartet worden, wie sich die Eltern und Geschwister von Ursula Herrmann, die als Nebenkläger auftraten, zu einer Verurteilung des Angeklagten äußern würden. Michael Herrmann, der ältere Bruder Ursulas, hatte sich mehrmals sehr kritisch zum Prozessverlauf geäußert und insbesondere Zweifel an der Beweiskraft des Tonbandgeräts angemeldet.

Rechtsanwältin Marion Zech, die die Familie vertrat, bewertete die Tat anders als die Staatsanwaltschaft als Mord, nicht lediglich als Entführung mit Todesfolge. Das Vorgehen der Täter sei mit einer so großen objektiven Gefahr für das Leben des Kindes verbunden gewesen, dass man zumindest von einem bedingten Tötungsvorsatz ausgehen müsse.

Dafür komme im Fall einer Verurteilung nur eine lebenslange Freiheitsstrafe in Frage. "Der Täter selbst hat dieses Urteil über Ursula und auch über ihre Familie verhängt", sagte Zech. Herbe Kritik äußerte Zech an dem kürzlich verstorbenen Fernsehfahnder Eduard Zimmermann, der in seinen XY-Sendungen von dem erschütternden Blick aus den geöffneten Augen Ursula Herrmanns gesprochen hatte - in Wahrheit waren Ursulas Augen geschlossen. "Damit hat er der Familie das Leben nach der Tat noch schwieriger gemacht", sagte Zech.

Dass allerdings dieser Angeklagte auch wirklich der Täter ist, davon ist die Familie Herrmann offenbar auch jetzt noch nicht völlig überzeugt. "Es ist für jeden Nichtjuristen schwierig, die Indizien in einer Gesamtschau zu bewerten", sagte die Anwältin. "Man sucht doch immer nach dem unumstößlichen Beweis."

Auch nach dem Ende der Beweisaufnahme gebe es in der Familie eine "gewisse Verunsicherung, ob der Angeklagte tatsächlich der Täter ist". Andererseits müsse man sagen: "Was an Indizien für eine Schuld des Angeklagten vorliegt, wiegt verdammt schwer." Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine Verurteilung sei deshalb aus juristischer Sicht "zu Recht gestellt worden". Dennoch wolle die Familie, "um ihrer eigenen Verunsicherung Ausdruck zu geben", keinen Antrag stellen.

Verteidiger Walter Rubach wies darauf hin, dass es keinen einzigen wirklichen Sachbeweis gegen seinen Mandanten gebe - keinen Fingerabdruck, keine DNS-Spur, und trotz mehrerer Hausdurchsuchungen in der Werkstatt und der Wohnung des Angeklagten in Eching keine einzige Spur, die ihn mit dem Bau der Kiste in Verbindung bringen könnte. Von dem Tonbandgerät könne man lediglich sagen, dass es für die Erzeugung der bei den Erpresseranrufen aufgezeichneten Tonfolge geeignet sei; ein Beweis, dass es wirklich das bei der Tat verwendete Gerät sei, sei das nicht. Es seien allein vom fraglichen Typ mehr als zwei Millionen Geräte hergestellt worden.

"Nicht das wert, was es heute wert sein soll"

Die Sachverständige, die das Gerät untersucht hatte, habe nur zwölf Vergleichsgeräte zur Verfügung gehabt, sagte Rubach. Die Aussage der Sachverständigen, dass es sich "wahrscheinlich" um das bei der Tat verwendete Gerät handle, bedeute nichts anderes, als dass "es viele andere Geräte geben kann, die als Tatmittel in Frage kommen".

Zu dem widerrufenen Geständnis von Klaus Pfaffinger wies Rubach darauf hin, dass dieses Geständnis für Polizei und Staatsanwaltschaft damals "nicht das wert war, was es heute wert sein soll". Die vernehmenden Polizeibeamten hätten ausdrücklich festgehalten, dass sie Pfaffingers Widerruf für glaubhaft hielten. Werner M. selbst, der während der Plädoyers eifrig an einem Manuskript gearbeitet hatte, beschränkte sich in seinem Schlusswort auf den Satz: "Ich habe mit dieser Tat nichts zu tun." Das Urteil soll am kommenden Donnerstag verkündet werden.

© SZ vom 19.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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