Kindesmisshandlung:Nach der Beichte gab es Hiebe auf den nackten Hintern

Bayern

Ein vergessener Ort der Grausamkeit: Das einstige Kinderheim von Donauwörth. SZ-Grafik

Es kam sogar vor, dass die Kinder den Stock selbst in das katholische Heim in Donauwörth mitbringen mussten. Vieles deutet darauf hin, dass sich das Bistum Augsburg vor der Aufarbeitung gedrückt hat.

Von Andreas Glas, Johann Osel und Christian Rost

Manchmal konnte es seinen eigenen Körper nicht ertragen. Da lag das Mädchen nachts im Bett des Schlafsaals, konnte nicht sitzen, kaum liegen. Die Bettwäsche, das Nachthemdchen - alles bereitete Schmerzen, wegen der Striemen an den Beinen und der blutigen Wunden. Tagsüber setzte es im Kinderheim Ohrfeigen, grundlos, aus dem Hinterhalt. Auch Faustschläge, Tritte, Kopfnüsse. Nach der Beichte gab es Hiebe auf den nackten Hintern. Es kam vor, dass die Kinder den Stock selbst mitbringen mussten. "Einen, der ordentlich pfeift", befahl der Pfarrer. Nicht selten lag es eingenässt da, wie andere Kinder in der Anstalt; aus purer Angst, und weil es verboten war, nachts auf die Toilette zu gehen. Wer ins Bett machte, durfte zwei Tage nichts trinken. Ein Mädchen schlich doch mal zum Abort, irgendwann in düsteren Stunden, um aus der Kloschüssel zu trinken. Es wurde erwischt - und bekam Prügel.

So erzählt es das Mädchen, das heute eine 58-jährige Frau ist. Sie nennt sich Marsha, ein Pseudonym. Sie hat das Fenster zu einer Hölle aufgerissen, als sie jüngst vom Martyrium erzählte, das sie und ihre Geschwister im Donauwörther Kinderheim Heilig Kreuz in den Sechziger- und Siebzigerjahren erlebt haben. Nun stellt sich die Frage, warum das Bistum Augsburg dieses Fenster geschlossen hielt, obwohl Marsha und ihre Schwester ihm vor sieben Jahren von der Hölle erzählten.

Man prüfte ihre Aussagen penibel, glaubte ihnen - und zahlte eine Entschädigung an drei Opfer. Aber sieben Jahre drang nichts durch die Kirchenmauern. Es sei Wunsch eines Opfers gewesen, dass die Öffentlichkeit nichts von den Entschädigungen erfahre, sagt ein Bistumssprecher. "Das ist nicht wahr. Ich habe nur darum gebeten, dass man über die Höhe der Zahlungen nicht in der Öffentlichkeit spricht", sagt Marsha der Süddeutschen Zeitung. Das Gegenteil sei der Fall: Sie habe die Missbrauchsbeauftragte des Bistums 2012 danach gefragt, einen Aufruf publik zu machen, "sodass sich auch andere Betroffene melden können. Die Antwort war: Das wird nicht stattfinden. Dass sie das jetzt anders hindrehen, ist eine Unverschämtheit".

Schutz sollten Mädchen und Buben im Kinderheim finden - im Fall von Marsha vor dem prügelnden, trinkenden Vater, vor "sozialen Missständen" in der Familie, wie es damals hieß. Die Missstände im Namen der christlichen Nächstenliebe waren schlimmer: kein Schutzraum, ständige "Habachtstellung - man wusste nicht, wer Freund oder Feind war". Wenn die Mädchen tagsüber die öffentliche Schule besuchten, hätten sie beim Sport Strumpfhosen tragen müssen, um die Striemen zu verbergen. Schlecht erging es "Bettschwätzern" - sie mussten zur Strafe Stunden mit erhobenen Händen auf einem Kleiderbügel knien. Wer schwächelte, wurde an den Haaren hochgezogen und geschlagen. Es scheint ein System gewesen zu sein.

Marsha und ihre Schwester wandten sich bereits 2011 an die Pädagogische Stiftung Cassianeum, Trägerin des Heims, und an die Diözese. Ein Gespräch mit der Stiftung scheiterte, das Bistum setzte seine Mechanismen für die Entschädigung in Gang. Es waren die Jahre, als nach vielen Vorfällen in kirchlichen Einrichtungen die Aufarbeitung begann, vielmehr oft Schadensbegrenzung. Wem "Unrecht sowie seelische und körperliche Gewalt angetan wurde", so die Bischofskonferenz, dem stehe "Entstigmatisierung und Rehabilitation" zu. Im Donauwörther Fall hieß das anscheinend: Geld, Worte des Bedauerns - aber nur intern. Versuche der Geschwister, selbst Öffentlichkeit zu schaffen, blieben 2011 fruchtlos. Gleichwohl erschien damals in der begrenzen Reichweite des Humanistischen Pressedienstes, eines kirchenkritischen Medienangebots, ein Text.

Fraglich ist, ob sich in den vergangenen sieben Jahren überhaupt jemand zuständig fühlte, die Gewalt aufzuklären. Die Stiftung handelt "rechtlich unabhängig und eigenständig", so das Bistum. Nicht das Bistum, sondern die Stiftung sei für die "Kommunikation mit der Öffentlichkeit und die Aufarbeitung der Vergangenheit" verantwortlich. Stiftungsleiter Peter Kosak wiederum sagt, er wusste zunächst gar nicht, dass seine Stiftung "überhaupt einmal ein solches Kinderheim betrieben hat". Zwar ist er erst seit Kurzem im Amt - doch was er sagt, legt nahe, dass die Gewalt in der Stiftung nie Thema war.

Aktuell bittet Kosak darum, dass sich Betroffene melden. Entweder bei der Stiftung oder bei der Missbrauchsbeauftragten des Bistums. "Wir versuchen jetzt jedenfalls das zu tun, was wir als Stiftung nach Lage der Dinge auch 2011 schon hätten tun können." Deutlicher könnte er über seinen Vorgänger kaum sagen, dass dieser versagt hat. Auch das Bistum sieht Versäumnisse offenbar beim früheren Stiftungsleiter, der am Freitag für Nachfragen nicht zu erreichen war. Diesen habe man im September 2011 gebeten, die Vorkommnisse ernst zu nehmen, zu prüfen und gegebenenfalls die Öffentlichkeit zu informieren. Passiert ist offenbar nichts. "Es muss zukünftig sicher ein Thema sein, wie man in solchen Fällen nachdrücklicher auf eine Aufarbeitung hinweist", räumt das Bistum auch eigene Verfehlungen ein.

"Leider ist die katholische Kirche für so etwas bekannt"

Im Mittelpunkt der Anschuldigungen steht der damalige Pfarrer und Heimdirektor Max Auer. Aber auch weltliche Erzieherinnen sollen für Misshandlungen verantwortlich gewesen sein. Marsha berichtet "ganz besonders von der Heimleiterin Tante V". Die drei Heimkinder, die bereits entschädigt wurden, könnten womöglich nur pars pro toto stehen. Hunderte Kinder haben das Heim zwischen 1916 und 1977 besucht - sechs Betroffene von Gewalt haben sich gemeldet, drei davon erst in den vergangenen Tagen, wohl ermutigt durch die Berichte. War das also der Grund, dass das Bistum so lange schwieg und Betroffene nicht aktiv einlud, Entschuldigung und Entschädigung einzufordern: die Angst, dass dann alles öffentlich wird, dass die Sache noch viel teurer werden könnte? Und unangenehmer? Ein neuer Großskandal in mittlerweile einer ganzen Reihe?

In Donauwörth sind die Menschen entsetzt über das, was jetzt ans Licht kommt. Ein 82 Jahre alter Mann, auf dem Weg zum Einkaufen, wundert sich nicht darüber, dass lange niemand über die schrecklichen Geschehnisse hinter den Klostermauern sprechen wollte. "Man hat nichts gewusst über die Vorgänge im Kinderheim", sagt er, "weil sich niemand traute zu reden. Das waren damals so hohe Herren in der Kirche, und der Kirche hat hier alles gehört." Allein der Grundbesitz, meint der Rentner, 80 Prozent des Bodens in Donauwörth habe sich in Kirchenbesitz befunden und beschreibt mit einer Hand einen großen Kreis. "Da hat niemand eingreifen wollen."

Eine Mutter holt ihren Buben vom benachbarten Kindergarten ab, der von der Stiftung getragen wird. Sie erschrickt geradezu, als sie auf die einstigen Misshandlungen angesprochen wird. Die Frau blickt auf den erhaben liegenden, an die Heilig-Kreuz-Kirche angegliederten Komplex und sagt: "Das ist doch nicht möglich." Ein anderer Passant, im kalten Wind vor dem ehemaligen Kinderheim, sagt das, was wohl viele denken: "Leider ist die katholische Kirche für so etwas bekannt."

Andere, hehre Ziele hatte "Onkel Ludwig", wie er genannt wurde und sich nannte. Ludwig Auer, Großvater des besagten Pfarrers, war Lehrer und Verleger, der sich der "Förderung der Volksbildung im Geist der katholischen Kirche" verschrieben hatte. Als christlicher Bildungsreformer ist er gut zu beschreiben. 1889 rief Auer ein Knaben-Institut ins Leben. "Die wichtigste Erziehungsregel: Liebe, immer Liebe, lauter Liebe. Zuviel Strenge verbittert, verhärtet, verbost das Kind", ist als Leitspruch erhalten.

Auer war seiner Zeit voraus ausgangs des 19. Jahrhunderts, in der eine Erziehungsreform darin bestand, dass Rattan-Rohrstöcke die Birkenrouten verdrängten. 1910 gründete er die Stiftung Cassianeum - die eröffnete 1916, zwei Jahre nach Auers Tod, das Erziehungsheim. Erst seine Söhne, dann Enkel leiteten die Geschicke der Stiftung - laut Satzung im Sinne des feingeistigen Pädagogen. Ludwig Auer schrieb auch Literatur. Ein zeitgenössischer Rezensent lobte: "Der in allen Erziehungskreisen rühmlichst bekannte Herr Verfasser bietet eine Erzählung aus dem wirklichen Leben und zeigt, wie der Arme durch Arbeitsamkeit und Gebet gestärkt wird."

Beten hat den Heimkindern später nicht geholfen. Marsha schildert auch Rohheit untereinander. Ihr Bruder ist demnach von älteren Burschen festgehalten und mit der Faust geschlagen worden. Da war er drei Jahre alt. Im Beisein des Pfarrers habe derlei stattgefunden. Auch sexuelle Übergriffe der Größeren habe es gegeben. Ob die Verantwortlichen davon wussten? Der Pfarrer pflegte in der Beichte zu fragen: "Hat jemand sein Didi in dein Pipi gesteckt?" Oder: "Hast du dein Pfuili berührt?" Niemand wolle etwas "von dem Dreck" wissen, wurde Marsha in einem anderen Heim gesagt, nachdem sie Donauwörth 1975 verlassen hatte. Die Erinnerungen, sie blieben ein Trauma. "Sie haben mich ein Leben lang im Würgegriff, nehmen mir manchmal die Luft zum Atmen." Jetzt erst ist ein Fenster offen, zum Lüften.

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