Klaus Töpfer war Bundesumweltminister sowie Direktor des UN-Umweltprogramms UNEP. Derzeit leitet er das Institute for Advanced Sustainability Studies, IASS, in Potsdam. Sebastian Unger ist Wissenschafts-Koordinator am IASS.
Es ist eine der wesentlichen Fragen der Menschheit: Wie schaffen wir es, in Zukunft den wachsenden Hunger nach Nahrung und Energie zu stillen, ohne dabei die natürlichen Grenzen unseres Planeten zu überschreiten? Ein bedeutender Teil der Antwort, nach der zurzeit auch die Staats- und Regierungschefs auf dem Erdgipfel "Rio+20" in Rio de Janeiro suchen, ist in den Meeren zu finden.
Deren Zustand ist besorgniserregend: Überfischung, Plastikmüll und Schadstoffe, dazu noch die Auswirkungen von Seeschifffahrt und Ölförderung haben dazu geführt, dass der Mensch mehr als 40 Prozent der Meere stark beeinflusst hat und diese nicht mehr im Naturzustand sind. Hinzu kommen die Folgen des steigenden Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen hat die Zukunft der Meere so zusammengefasst: zu warm, zu hoch, zu sauer.
Besonders deutlich werden die Auswirkungen in der Arktis sein: Mit steigenden Temperaturen schmilzt das Eis, werden die Nahrungsketten im Meer beeinträchtigt. Vormals eisbedeckte Gebiete werden für Öl- und Gasbohrungen oder neue Schifffahrtsrouten geöffnet. Der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen prägte für dieses neue, zunehmend vom Menschen beeinflusste Erdzeitalter einen neuen Namen, das Anthropozän: Die Menschheit wirkt heute wie eine quasi-geologische Kraft, welche die Abläufe des natürlichen Erdsystems tiefgreifend und unumkehrbar verändert - falls es so wie gewohnt weitergeht.
Mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche sind von Meeren bedeckt. Meereswissenschaftler warnen längst, dass der Einfluss des Menschen auf die Meeresumwelt in den nächsten Jahren zu einem Artensterben führen könnte, dessen Ausmaß und Auswirkungen wir nur erahnen können. Heute leben bereits sieben Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Von diesen ernähren sich fast drei Milliarden primär aus den Meeren. Mit einer weiter wachsenden Bevölkerung wird auch der Hunger auf Fisch zunehmend schwer zu stillen sein. Ban Ki Moon, Generalsekretär der Vereinten Nationen, fordert daher zu Recht, die nachhaltige Nutzung der Meere zu den wichtigsten Zielen von Rio+20 zu zählen.
Ein weiteres Problem neben der Überfischung ist, dass wir für fast zwei Drittel der Ozeane keine wirksamen Instrumente zum Schutz der enthaltenen biologischen Vielfalt haben. Diese Gebiete auf der hohen See beginnen 200 Seemeilen (370 Kilometer) vor den Küsten, außerhalb der sogenannten "Ausschließlichen Wirtschaftszonen" der Staaten.
Sie machen 40 Prozent der Erdoberfläche aus und beherbergen einen Großteil der biologischen Vielfalt der Erde. Mineralische Bodenschätze werden hier als "gemeinsames Erbe der Menschheit" von einer dafür zuständigen UN-Behörde in Kingston, Jamaika verwaltet. Das Wasser darüber steht prinzipiell allen Staaten zur Nutzung frei. Hat sich die Ausbeutung der Ozeane bisher eher auf küstennahe Gewässer konzentriert, werden zunehmend auch diese tiefen und weiter entfernten Meereszonen befischt und für neue Aktivitäten wie den Tiefseebergbau erschlossen.
Die Einteilung der Meere in rechtlich unterschiedliche Zonen, der Zugang zu Bodenschätzen und natürlichen Reichtümern sowie die Erhaltung der Meeresumwelt werden im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, dem "Grundgesetz der Meere", festgeschrieben. Zuständiges Gericht ist der Internationale Seegerichtshof in Hamburg. Die Präambel des Seerechtsübereinkommens besagt, "dass die Probleme des Meeresraums eng miteinander verbunden sind und als Ganzes betrachtet werden müssen".
Doch bisher gibt es nur spezifische Abkommen für einzelne Nutzungsformen, zum Beispiel für die Seeschifffahrt, die Fischerei, den Walfang und den Abbau von Bodenschätzen. Die Einrichtung von Meeresschutzgebieten, die Prüfung der Umweltverträglichkeit geplanter Aktivitäten oder gar die Überwachung und Durchsetzung von Umweltschutzregeln sind auf der hohen See bisher nicht oder nur sehr begrenzt möglich. Damit ist gerade der größte Teil der Meere der am wenigsten verantwortungsvoll verwaltete. Die Hoffnung vieler Umweltschützer ruht nun darauf, dass Rio+20 ein Umdenken anstößt.
Zahlreiche globale Verpflichtungen zum Schutz der Natur und Umwelt gelten zwar auch für die Weltmeere insgesamt, lassen sich aber auf den Weltmeeren kaum umsetzen. Die UN-Konvention über die Biologische Vielfalt hat zum Beispiel das Ziel, bis 2020 ein Netzwerk von Meeresschutzgebieten einzurichten, das weltweit zehn Prozent der Meeresoberfläche bedeckt. Bisher ist nur circa ein Prozent der Meere durch Schutzgebiete gesichert. Besonders schlecht sieht dabei die Situation auf der hohen See aus. Zwar gibt es erfreuliche Entwicklungen auf regionaler Ebene, etwa im Rahmen des Übereinkommens zum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks (nach seinen Vorläufern Oslo- und Paris-Konvention Ospar genannt).
Hier wurde auch dank der Initiative Deutschlands ein weltweit erstes Netzwerk von Meeresschutzgebieten auf der hohen See eingerichtet. Die Gesamtfläche entspricht etwa der Größe der Ostsee. Geschützt werden Kaltwasserkorallenriffe, unterseeische Berge, Tiefsee-Canyons, hydrothermale Quellen (sogenannte Schwarze Raucher) und unzählige Arten, von denen viele noch unbekannt sind. Auch im Antarktischen Ozean wurde unlängst ein erstes Hochsee-Gebiet unter Schutz gestellt, und erfolgversprechende regionale Aktivitäten sollen die Sargassosee in den Gewässern um Bermuda schützen.
Derartige Initiativen decken aber nur einen Bruchteil der Weltmeere ab und besitzen auf globaler Ebene kaum rechtliche Verbindlichkeit. Um diese Lücke zu schließen, sollte ein neuer internationaler Rahmen zum Schutz der biologischen Vielfalt auf der hohen See vereinbart werden. Die Europäische Union und einige Schwellenländer der Staatengruppe G 77 fordern zu Recht, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen durch ein sogenanntes Durchführungsübereinkommen zu ergänzen, treffen dabei aber auf den Widerstand anderer Staaten, vor allem der USA.
Mit einem solchen neuen Übereinkommen soll der Schutz und die nachhaltige Nutzung der natürlichen Vielfalt in den Ozeanen unter anderem durch Meeresschutzgebiete und durch Umweltverträglichkeitsprüfungen für geplante Aktivitäten erreicht werden.
Als mögliche Bestandteile werden auch Regelungen über den Technologie- und Wissenstransfer an Entwicklungsländer und zur Beteiligung an Gewinnen aus der Nutzung genetischer Informationen von Meereslebewesen, zum Beispiel für die Entwicklung neuer Medikamente, diskutiert. Verhandlungen darüber unter dem Dach der zuständigen Generalversammlung der Vereinten Nationen kommen seit Jahren nur langsam voran. Von Rio+20 wird ein deutliches politisches Signal für den Schutz der hohen See erwartet, auch wenn der bereits vorliegende Entwurf des Rio+20-Abschlussdokuments hinter den Erwartungen vieler Umweltverbände zurückbleibt. Die Bundesregierung, die seit Jahren eine wichtige Rolle im internationalen Meeresschutz spielt, sollte sich weiterhin aktiv dafür einsetzen.
Wir dürfen aber nicht den großen Wurf abwarten. Internationale Verhandlungsprozesse und Ratifizierungen von Abkommen ziehen sich häufig Jahrzehnte hin. Parallel müssen daher bestehende Instrumente und Programme, zum Beispiel von regionalen Meeresschutzorganisationen wie Ospar, voll ausgenutzt und weiterentwickelt werden. In einer groß angelegten Initiative der UN-Konvention über die biologische Vielfalt werden derzeit weltweit ökologisch und biologisch bedeutsame Meeresgebiete, zum Beispiel in der Karibik und im Atlantik, identifiziert. Im Februar hat die Weltbank ihre "Global Partnership for Oceans" zur Finanzierung von Schutzprojekten ins Leben gerufen.
Die Meeresforschung mit Einrichtungen wie dem Alfred-Wegener-Institut für Polar und Meeresforschung sowie den Forschungszentren Marum in Bremen und Geomar in Kiel hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte im Verständnis der Tiefsee und der offenen Ozeane gemacht.
All das sind wichtige Beispiele, die neben politischen Verhandlungen auf globaler Ebene parallel gestärkt und zusammengeführt werden müssen. Eine Welt im Anthropozän erfordert wirkungsvollere Instrumente und neue Wege zum Schutz der Ozeane. Das Wissen darüber, wie der Mensch die Welt beeinflusst, muss jetzt zum Handeln führen.