Der Schrecken der deutschen Windenergiebranche macht sich in diesen Tagen auf in den Süden: Der Rotmilan verbringt die Winter lieber im Warmen. Zurück bleiben verzweifelte Anlagenhersteller und Windparkentwickler. Deren Geschäft ist in den letzten zwei Jahren drastisch eingebrochen, weil die Behörden kaum mehr Genehmigungen für den Bau neuer Windparks an Land erteilen - oft, weil im Umfeld geplanter Anlagen Rotmilane und andere Vögel leben, die durch die Rotoren gefährdet werden könnten. Windkraftgegner nutzen den Artenschutz zudem als Argument, um Vorhaben vor Gericht zu verhindern.
Der Bundesverband Windenergie erwartet, dass die installierte Leistung der Windkraft an Land 2019 nur um maximal ein Gigawatt wachsen wird. Selbst wenn die neuen Anlagen alle zur gleichen Zeit mit voller Kraft liefen, würden sie gerade einmal so viel Strom erzeugen wie zwei mittlere Kohlekraftwerksblöcke. Ein Grund für die Bundesregierung, Tempo zu machen bei der Onshore-Windenergie, wo doch der Kohleausstieg ansteht und die erneuerbaren Energien bis 2030 insgesamt 65 Prozent des Strombedarfs decken sollen? Von wegen: Das jetzt vom Kabinett verabschiedete Klimaschutzprogramm 2030 setzt für die Windenergie an Land ein Ausbauziel von 67 bis 71 Gigawatt - im ersten Entwurf war noch von 80 Gigawatt die Rede. Bei einer derzeit installierten Leistung von 54 Gigawatt bedeutet das einen jährlichen Nettozubau von gerade einmal 1,4 bis 1,8 Gigawatt, nur wenig mehr als die Rate heute.
Im Gegenzug hat die Bundesregierung die Ausbauziele für die Photovoltaik und die Windenergie auf hoher See erhöht. Zusammen sollen die erneuerbaren Energien 2030 etwa 380 Terawattstunden Strom liefern. Damit lässt sich das 65-Prozent-Ziel erreichen, ist die Bundesregierung überzeugt - sie geht davon aus, dass der Stromverbrauch bis 2030 von heute 599 auf 583 Terawattstunden sinken wird, weil Anlagen, Maschinen und Geräte immer effizienter werden. Diese Zahl sei jedoch zu niedrig angesetzt, meinen einige Experten. Der Berliner Think Tank Agora Energiewendeerwartet einen Verbrauch von etwa 620, das Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (IEE) rechnet sogar mit 683 Terawattstunden. Grund für die abweichenden Prognosen ist, dass sie den zusätzlich anfallenden Stromverbrauch etwa für Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen - die sogenannte "Sektorenkopplung" - höher einschätzen.
Daher reichen die gesteckten Ausbauziele für die Windenergie an Land nicht aus, meint Clemens Hoffmann, Leiter des Fraunhofer-IEE. "Unsere Analysen zeigen, dass wir bei der Windenergie an Land bis 2030 eine installierte Leistung von 97 Gigawatt benötigen, um den zusätzlichen Strombedarf decken zu können, der durch die Sektorenkoppelung entsteht", sagt der Forscher. Daraus leitet Hoffmann ab, dass jährlich Onshore-Anlagen mit einer Leistung von mindestens fünf Gigawatt - das entspricht etwa 1500 Windrädern der neuesten Generation - entstehen müssen. Zudem werden im nächsten Jahrzehnt Tausende alte Windräder vom Netz gehen, deren Förderung ausläuft. "Von diesen Zubauzahlen sind wir derzeit allerdings meilenweit entfernt", sagt Hoffmann. "Das ist fatal, weil der Ausbau der Windenergie die wichtigste Säule der Energiewende ist."
Neue Windräder müssen 1000 Meter Abstand zu Wohngebieten haben
Allerdings riskiert die Bundesregierung, selbst ihr geringes Ausbauziel noch zu verfehlen. So hat die schwarz-rote Koalition auch festgeschrieben, dass neue Windräder künftig einen Abstand von 1000 Metern zur Wohnbebauung haben müssen. Das Umweltbundesamt hat in einer im März veröffentlichten Studie errechnet, dass ein solcher Abstand die für Windenergie zur Verfügung stehende Fläche stark reduziert. Dann wäre nur noch Platz für Anlagen mit einer Leistung von maximal 63 Gigawatt, noch weniger als selbst das niedrige Ausbauziel der Bundesregierung.
Eine Sprecherin des CDU-geführten Wirtschaftsministeriums verweist auf Anfrage auf die sogenannte Länderöffnungsklausel, die es den Bundesländern erlaubt, den Mindestabstand aufzuheben. "Davon hängt das künftig in Deutschland zur Verfügung stehende Flächenpotenzial für die Windkraft ab", erklärt sie. Zudem können Kommunen auch eigene, geringere Abstände festlegen. Die Windenergiebranche stellt das nicht zufrieden. "Mit der pauschalen Abstandsregel und der Länderöffnungsklausel macht es sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier sehr einfach", meint Hermann Albers, Präsident des Bundesverbands Windenergie. Altmaier schiebe die Verantwortung für die Ausweisung der nötigen Flächen zu den Ministerpräsidenten, den Landesministern und Bürgermeistern ab. "Dabei brauchen die Länder und Kommunen in dieser Frage vielmehr die Rückendeckung des Bundes", sagt Albers.
Schon heute ist klar, dass längst nicht alle Länder diese Klausel in Anspruch nehmen werden. So hat sich Bayern explizit ins Klimaschutzprogramm schreiben lassen, dass die besonders strenge "10H"-Abstandsregel des Freistaats auch künftig gelten darf. Sie sieht vor, dass Windanlagen zu Wohngebieten einen Mindestabstand vom Zehnfachen ihrer Höhe einhalten müssen. Damit wird es in Bayern weiterhin so gut wie keine neuen Windräder geben. "Wenn wir die Windenergie nur in den nördlichen Bundesländern ausbauen, muss mehr Strom in den Süden transportiert werden", folgert Frank Peter, stellvertretender Direktor von Agora Energiewende. Das verlange den Bau zusätzlicher Leitungen. "Damit würden aber neue Akzeptanzprobleme entstehen", so Peter. Statt neuer Windräder müssen die Bürger dann neue Strommasten hinnehmen.
Und der Rotmilan? Der könnte trotzdem zum Verlierer der neuen Energiepolitik werden. Denn Altmaier verlangt von Umweltministerin Svenja Schulze (SPD), das Bundesnaturschutzgesetz windkraftfreundlicher zu gestalten. Auch sollen die aufschiebenden Wirkungen von Klagen gegen neue Windparks eingeschränkt und Genehmigungen beschleunigt werden. Derzeit haben die Naturschutzbehörden großen Ermessensspielraum. Der Bund müsse "im Naturschutzrecht klare Regeln definieren, unter welchen Umständen die Behörden Windenergieanlagen zu genehmigen haben", sagt Peter. Dabei müsse die Windenergie wo immer möglich Vorrang haben. "Denn die größte Bedrohung für die heimische Flora und Fauna ist der Klimawandel, nicht die Windenergie."