Zu den Kosten der sexuellen Freiheit gehören auch Ausgaben für bessere Kläranlagen. Denn Östrogene aus der Antibabypille sind zu einem bedeutsamen Schadstoff in Gewässern geworden.
Künstliche Hormone wie 17-alpha-Ethinylestradiol, kurz EE2, verhindern nicht nur ungewollte Schwangerschaften, sondern stören auch die Fortpflanzung von Fischen. Nicht selten produzieren männliche Tiere Eier statt Spermien, wenn sie in EE2-belasteten Gewässern schwimmen. Längst findet sich der Pillenwirkstoff, den Frauen zum Teil mit dem Urin wieder ausscheiden, in Seen und Flüssen, weil normale Kläranlagen ihn nicht zurückhalten.
Das soll sich ändern: Nach einem Vorschlag der EU-Kommission sollen künftig Höchstgrenzen für EE2 in Gewässern gelten, die europäische Wasserrahmenrichtlinie soll entsprechend aktualisiert werden. Eigentlich ein Ziel, auf das man sich leicht einigen könnte - wäre da nicht die Diskussion um die Kosten der Maßnahme.
Die nötigen Aktivkohlefilter würden allein für die Klärwerke einer Stadt mit 250.000 Einwohnern etwa acht Millionen Euro kosten, hinzu kämen 800.000 Euro jährlich an laufenden Ausgaben, haben britische Wissenschaftler ausgerechnet ( Nature, Bd. 485, S. 441, 2012). Viele Milliarden Euro pro Land müssten Europas Bürger demnach zahlen, um die Umweltfolgen der chemischen Empfängnisverhütung in den Griff zu bekommen.
Das Umweltbundesamt (UBA) allerdings widerspricht. "Hier werden die Kosten auf eine einzige Substanz bezogen. Tatsächlich aber bindet Aktivkohle eine Vielzahl von Schadstoffen", sagt Joachim Heidmeier, der im UBA das Fachgebiet Stoffhaushalt Gewässer leitet. Arzneimittelwirkstoffe seien nicht die einzigen Spurenstoffe, deren Einträge zu reduzieren sind.
Bezogen auf alle herausgefilterten Schadstoffe reduzierten sich die Kosten pro Substanz um mehrere Größenordnungen - zumal gar nicht alle Kläranlagen nachgerüstet werden müssten, um einen Großteil des Abwassers zu reinigen: Laut UBA behandeln 2,4 Prozent aller Kläranlagen die Hälfte des in Deutschland anfallenden Abwassers.
Das Ganze ist mehr als ein Streit um Zahlen, denn EE2 ist nur ein Stoff unter vielen, die man aus den Gewässern hinausbekommen möchte. Bereits im Jahr 2000 setzte das EU-Parlament 33 Umweltgifte auf eine Liste "prioritärer Stoffe" der europäischen Wasserrahmenrichtlinie, vor allem Schwermetalle und Pestizide. Nun sollen 15 weitere Substanzen hinzukommen, darunter auch erstmals drei Arzneiwirkstoffe: neben EE2 das Schmerzmittel Diclofenac und das natürliche Östrogen E2. Es wird zur Hormonersatztherapie in den Wechseljahren verwendet und gelangt außerdem in großen Mengen durch die Intensivhaltung von Rindern in die Umwelt.
Außerdem ist geplant, mehrere Pflanzenschutzmittel sowie Industriechemikalien, Dioxin und Dioxin-ähnliche PCB mit aufzulisten. Die gefährlichsten prioritären Stoffe sollen schrittweise ganz aus Europas Gewässern verschwinden, für die übrigen werden Obergrenzen festgesetzt. So will die EU einen "guten Zustand" der Gewässer bis 2015 erreichen. Ein hochgestecktes Ziel: Nur 30 Prozent der europäischen Oberflächengewässer und 25 Prozent des Grundwassers gelten derzeit nicht als ernsthaft gefährdet.
Umweltverbände drängen darauf, noch mehr Arzneistoffe zu regulieren. Auch nach Auffassung des Umweltbundesamtes gehört mindestens ein halbes Dutzend weiterer Medikamente auf die Schadstoffliste, darunter das Schmerzmittel Ibuprofen, das Diabetes-Medikament Metformin sowie das Antibiotikum Clindamycin.
"Aus fachlicher Sicht ist es nötig, bei weiteren Arzneistoffen kritisch zu prüfen, ob sie in diese Liste aufgenommen werden müssen", sagt UBA-Mitarbeiterin Christiane Heiß. Anfang 2013 beginnt die nächste Runde zur Aktualisierung der prioritären Stoffe in der Wasserrahmenrichtlinie. Dann wird das UBA der EU-Kommission voraussichtlich weitere Wirkstoffe vorschlagen.
"Am dringlichsten erscheint uns eine Regulierung von Arzneimittelwirkstoffen, die in großen oder steigenden Mengen verwendet werden oder von denen man weiß, dass sie, wie die hormonähnlichen Stoffe, schon in kleinsten Mengen wirksam sind", sagt Claudia Thierbach, die im UBA das für Arzneimittel zuständige Fachgebiet leitet. Besondere Beachtung sollte auch den langlebigen Wirkstoffen gewidmet werden.
Dabei ist die Regulierung mittels Wasserrahmenrichtlinie eigentlich nur ein "Sicherheitsnetz", wie es in einem Dokument der EU-Kommission heißt. Nötig sei es unter anderem geworden, weil Maßnahmen, die an der Schadstoffquelle ansetzen, nicht ausreichend greifen. So seien bei der Zulassung von Substanzen oft mangelhafte Modelle und Annahmen verwendet worden.
Das gilt offenbar auch für Medikamente. Obwohl Arzneimittel als Umweltschadstoffe schon vor Jahren in den Blick der Behörden gerieten, ist nicht ganz klar, über welche Wege die Substanzen ins Wasser gelangen. "Soweit bekannt, stammen Arzneimittel in Gewässern vor allem aus Ausscheidungen von Patienten, denn Medikamentenwirkstoffe werden kaum im Körper abgebaut", sagt Claudia Thierbach. "Außerdem spielt die unsachgemäße Entsorgung über die Toilette eine Rolle."
Eine Studie aus den USA hatte indes vor zwei Jahren gezeigt, dass vor allem mit den Abwässern der Pharmaindustrie erhebliche Mengen Arzneimittel in die Umwelt gelangen.
Für Deutschland fehlen dazu jedoch systematische Untersuchungen. "Vermutlich ist dieser Anteil hier aber gering", sagt Thierbach. Denn es würden nur noch wenige Medikamentenwirkstoffe in Deutschland hergestellt. "Viele kommen beispielsweise aus Indien, wo billiger produziert wird." Dort fanden schwedische Forscher im Flusswasser unterhalb einer Pharmafirma sogar höhere Antibiotika-Konzentrationen, als sie normalerweise im Blut von Patienten während einer Behandlung auftreten ( Plos One, Bd. 6, S. e17038, 2011).
Ob und in welchem Maße Pharmafirmen auch Flüsse und Seen in Europa mit ihren Produkten verunreinigen, wird bisher nicht überprüft. Das könnte sich ändern, sobald Medikamente durch die Wasserrahmenrichtlinie reguliert werden. "Wenn europäische Umweltqualitätsziele für Arzneistoffe rechtskräftig beschlossen sind, müssen die einzelnen Gewässer darauf überprüft werden, ob zulässige Konzentrationen überschritten sind", sagt Christiane Heiß. "Wenn dies der Fall ist, werden wir nach den relevanten Quellen suchen."
Wie hoch die Kosten insgesamt sein werden, um die jetzt vorgeschlagenen 15 Stoffe zu begrenzen, kann das UBA noch nicht sagen. Doch sei das auch nicht der entscheidende Punkt, sagt Heiß: "Wenn ein Risiko erkannt ist, und es gibt technische Verfahren, es wirksam und effizient zu vermeiden oder zu reduzieren, dann müssen diese Möglichkeiten auch genutzt werden." Da sei die Herangehensweise in Deutschland anders als in den angelsächsischen Ländern, wo eher abgewogen werde, ob die Kosten im Verhältnis zum Nutzen nicht zu hoch sind: "Bei uns wird das Schutzziel selbst nicht infrage gestellt, sondern nur geprüft, welche Lösung am kostengünstigsten ist."