Teilchenforschung:Messdaten deuten auf neue Physik hin

Lesezeit: 3 Min.

Der Tevatron-Beschleuniger am Fermilab in Batavia, Illinois. (Foto: Fermilab Handout/dpa)

Laut einer Analyse von Daten des Teilchenbeschleunigers Tevatron könnte ein Elementarteilchen, das W-Boson, schwerer sein als gedacht. Muss das Standardmodell korrigiert werden?

Von Marlene Weiß

Eines der fundamentalen Teilchen der Physik ist womöglich deutlich schwerer, als es die herkömmlichen Gesetze der Physik erlauben. Die Messung könnte also ein Zeichen für die ersehnte "neue Physik" sein, die über das bisher Bekannte hinausgeht. Aber eine unabhängige Bestätigung steht noch aus.

In der renommierten Fachzeitschrift Science hat ein internationales Team am Donnerstag von einer Analyse der Daten berichtet, die über einen Zeitraum von fast zehn Jahren am CDF-Detektor des Tevatron-Beschleunigers gesammelt wurden. Die riesige Maschine wurde bis 2011 am Fermilab im US-Bundesstaat Illinois betrieben, aber bis heute analysieren Forscherinnen und Forscher weltweit die Daten aus den Kollisionen von Protonen und Antiprotonen. Prallen diese Teilchen aufeinander, entstehen wie Trümmer aus dem Zusammenstoß eine Vielzahl weiterer Partikel, die dann von den Detektoren erfasst werden. Diese können auch viel schwerer sein als die ursprünglichen Protonen, weil die Energie der Kollision in Masse umgewandelt werden kann.

In der aktuellen Veröffentlichung geht es um das W-Boson, ein in der Öffentlichkeit wenig bekanntes, aber zugleich absolut fundamentales Teilchen. So wie das Lichtteilchen - das Photon - dafür zuständig ist, die elektromagnetische Kraft zu übertragen, ist das W-Boson zusammen mit dem Z-Boson Träger der sogenannten schwachen Kernkraft, neben Elektromagnetismus, starker Kernkraft und Gravitation eine der vier Grundkräfte der Physik. Anders als das masselose Photon ist das W-Boson aber ziemlich schwer. Es wiegt etwa so viel wie 80 Wasserstoffkerne - das ist zwar immer noch nicht mal ein Trilliardstel Gramm, aber für ein Elementarteilchen am üppigen Ende.

Die Messung verursacht in Fachkreisen einige Aufregung

Das "Standardmodell der Teilchenphysik" macht zwar keine direkte Vorhersage für die Masse des W-Bosons, setzt ihr aber enge Grenzen, die wiederum von anderen, gemessenen Massen abhängen, zum Beispiel die des Top-Quarks oder des Higgs-Teilchens. Laut bisherigen Messungen sollte die Masse des W-Bosons in der üblichen Einheit der Teilchenphysik etwa 80,37 Gigaelektronenvolt entsprechen. Die CDF-Forscher kommen aber nun auf 80,43 Gigaelektronenvolt, mit einer sehr niedrigen Unsicherheit von nur 0,01 Prozent. Das mag nicht nach viel klingen, ist aber mit dem bisherigen Messwert nicht kompatibel. Vor allem aber ist es deutlich schwerer, als es das Standardmodell zulässt, um ganze sieben "Standardabweichungen" - ein Maß dafür, wie sehr eine Messung in Anbetracht der Streuung der Daten vom erwarteten Wert abweicht, und sieben Standardabweichungen sind sehr viel.

Die Messung verursacht in Fachkreisen einige Aufregung. Schließlich verfluchen Physiker das Standardmodell seit Langem für seine Perfektion bei gleichzeitiger Unvollständigkeit. Einerseits kann es nicht erklären, was die rätselhafte Dunkle Materie ist, die das All anfüllt, oder warum manche Teilchenmassen so klein und andere so groß sind. Andererseits aber kann man ihm bislang keinen Fehler nachweisen. Alle Experimente bestätigen nur immer wieder auf frustrierende Weise die Vorhersagen des Modells - mal abgesehen von jüngsten Ergebnissen zum magnetischen Moment des Myons oder zu Hinweisen auf sogenannte Leptoquarks, die ebenfalls auf neue Physik hindeuten könnten. Darum ist es immer spannend, wenn eine Messung mal nicht zur Vorhersage passt. Es könnte ein Hinweis auf noch unbekannte Teilchen oder neue Wechselwirkungen sein.

Aber wird das aktuelle Ergebnis Bestand haben? Matthias Schott von der Universität Mainz, der am Teilchenbeschleuniger LHC am Cern bei Genf forscht, ist skeptisch. "Es ist schade, dass die Arbeit nicht vor der Publikation auf einem Preprint-Server veröffentlicht wurde, wie das sonst üblich ist", sagt Schott, der sich ebenfalls seit Langem mit W-Bosonen beschäftigt. "Diese Messungen sind extrem komplex, und so hätte man im Vorfeld diskutieren können, wie unterschiedliche Fehlerquellen berücksichtigt wurden." Dazu ist im Science-Artikel aber nicht viel zu lesen. Bevor man anfängt zu spekulieren, warum die Messung nicht zum Standardmodell passt, müsste man verstehen, warum sie nicht zu den bisherigen Ergebnissen passt, findet Schott. Denn bislang stimmen alle Messungen im Rahmen der Unsicherheiten einigermaßen überein, nur die neue sticht heraus. Das ist zunächst einmal verdächtig.

Aber heißt das, dass die Arbeit vermutlich falsch und wertlos ist? Noch lange nicht. "Die Forscher im CDF-Team sind alles hervorragende Physiker, und der experimentelle Teil der Arbeit ist wirklich fantastisch", sagt Schott. Möglicherweise stellt es sich heraus, dass der neue Messwert etwas zu hoch gegriffen ist und die Messunsicherheit doch etwas größer, sodass der Widerspruch zu früheren Ergebnissen sich auflöst. Dann könnte man die Messung mit den früheren Daten kombinieren und hätte im Schnitt über alle Messungen eine W-Boson-Masse, die nicht mehr ganz so extrem, aber immer noch höher ist, als es das Standardmodell erlaubt. "Es wird also wieder spannender", sagt Schott. "Es lohnt sich auf jeden Fall, das W-Boson weiter anzuschauen."

Genau das haben viele Forscher aktuell vor: Während der Tevatron längst abgeschaltet ist, ist der Teilchenbeschleuniger LHC noch aktiv, und noch lange sind nicht alle Daten aus der letzten Messrunde ausgewertet. Auch von dort sind künftig noch W-Boson-Messungen zu erwarten.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusTeilchenphysik
:Auf der Spur der Geisterteilchen

Mit höherer Präzision als je zuvor haben Forscher die Masse des Neutrinos gemessen. Die Winzlinge spielen gleich für mehrere große Rätsel der Physik eine Rolle.

Von Marlene Weiß

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: