Umweltgeschichte:Dreck der Ahnen

Lesezeit: 6 Min.

Ist Umweltverschmutzung eine moderne Entwicklung? Keineswegs. Seit Menschen leben, zerstören sie ihre Umwelt. Luftverschmutzung war schon in der Antike ein Problem.

Von Sebastian Herrmann

Nicht weit entfernt vom Titicaca-See liegt ein schmutziges Geheimnis verborgen. Auf mehr als 5000 Metern Seehöhe finden sich hier im Quelccaya-Eisfeld Zeugnisse alter Sünden. Der Gletscher im Hochland von Peru lässt sich lesen wie ein Archiv. Es enthält Emissionsdaten, die eine frühe Luftverschmutzung dokumentieren. In Bohrkernen lässt sich nachvollziehen, wann die spanischen Kolonialherren im 16. Jahrhundert den Silberbergbau in Potosí, Bolivien, intensiviert haben. Obwohl sich die Bergwerke am Cerro Rico in mehr als 800 Kilometern Entfernung befanden, lagerten sich im Quelccaya-Gletscher große Mengen Schwermetalle ab. In den Jahren nach 1572 entließen die Spanier erstmals in der Geschichte der Menschheit nennenswerte Mengen Blei in den Himmel über den Anden.

Das Ausmaß der Belastung war für die damalige Epoche wohl einzigartig. Der Cerro Rico barg einst das größte Silbervorkommen der Welt, und durch den Bergbau war Potosí im frühen 17. Jahrhundert zu einer der größten Städte der Welt herangewachsen. Als die Spanier begannen, das Erz unter der Zugabe von Quecksilber in Blei und Silber zu trennen, verwandelte sich Potosí auch zu einer der giftigsten Städte der Erde. Die Daten legen nahe, dass die Atmosphäre massiv mit Schwermetallen verschmutzt war, berichten die Forscher um Paolo Gabrielli von der Ohio State University, die den Eisbohrkern aus dem Quelccaya-Gletscher analysiert haben ( PNAS, online).

Erfindung der Moderne

Die Vorstellung irritiert, dass schon vor Jahrhunderten toxische Dämpfe über die Bergrücken der Anden zogen. Ist so etwas nicht ein trauriges Phänomen der Moderne? Doch handelt sich um einen verbreiteten Irrtum, dass erst die Industrialisierung zur Umweltzerstörung geführt habe. Die zweibeinige Spezies hat seit jeher Raubbau an der Natur betrieben. Erst die rauchenden Fabrikschlote der Industrialisierung, wuchernde Städte und die Technisierung des Alltags provozierten unter Europas Intellektuellen die Vorstellung, dass es so etwas wie eine reine Epoche gegeben haben müsse, in der die Menschen die Natur pflegten statt pflügten. Zu den Hauptdarstellern dieser grünen Vergangenheit wurden die Ureinwohner der von den Europäern kolonisierten Kontinente ernannt. Diese Legende vom edlen Öko-Wilden, der in Harmonie und spiritueller Verbundenheit mit seiner Umwelt lebt, findet noch heute viele Anhänger.

Bereits vor den Spaniern beuteten die Inka die Erzvorkommen am Cerro Rico aus. Und vor ihnen verschmutzten Angehörige anderer Völker die Gegend um das heutige Potosí - die ersten Bergarbeiter schürften um 1800 vor Christus in den Anden nach Metallen und hantierten dabei mit toxischen Stoffen. Solche Beispiele lassen sich in großer Zahl sammeln: Nachdem die Maori einst Neuseeland erreicht hatten, ließen die von ihnen entfachten Brände die Wälder schrumpfen. Auf Tasmanien verwandelten die Ureinwohner, so schreibt Christopher Doughty von der Universität Oxford in einer Übersichtsarbeit, Regenwälder durch Raubbau in Moor- und Sumpfgebiete.

Bergbau war stets eine giftige Angelegenheit. Das schilderte auch Georgius Acricola in seinem Werk "De Re Metallica", aus dem der Schnitt stammt. (Foto: oh)

Die Menschen richteten schon immer Umweltschäden an, nur das Ausmaß unterscheidet sich: Die Spuren des Bergbaus der Inka und ihrer Vorfahren lassen sich heute nur lokal und begrenzt nachweisen, etwa in Sedimenten von Seen in der Nähe der einstigen Minen. Im Umweltarchiv des Quelccaya-Eisfelds sind sie hingegen nicht verzeichnet, die Bergbauaktivitäten waren zu gering. Was dann die Spanier vor Jahrhunderten in den Himmel über dem Cerro Rico bliesen, wird wiederum von den Folgen der Industrialisierung um viele Größenordnungen übertroffen.

"Umweltprobleme waren in vorindustrieller Zeit meist lokal begrenzt", sagt der Umwelthistoriker Frank Uekötter von der Universität Birmingham. "Doch mit dem Wachstum von Städten und dem Erfolg von Gesellschaften stieg das Ausmaß der Schäden an." So weiteten die antiken Zivilisationen des Mittelmeerraums erstmals ihren ökologischen Sandalenabdruck signifikant aus: Die von Phöniziern, Karthagern, Griechen und Römern in die Atmosphäre entlassenen Giftstoffe reisten bereits um die ganze Erde. Im Eispanzer Grönlands fanden Forscher Rückstände der Montanfertigung antiker Hochkulturen - giftige Bleirückstände aus der Metallverhüttung.

Am Rio Tinto, im Westen Andalusiens, wühlten sich Bergarbeiter durch die Erde, um Silber, Blei und andere Erze zu gewinnen. Die antiken Zerstörungen der Römer zerpflügten ganze Landstriche und hinterließen allein am Rio Tinto 6,6 Millionen Tonnen Schlacke. Auch die Fördermengen beeindrucken: Die Griechen gewannen allein im fünften Jahrhundert vor Christus laut Schätzungen etwa 450 000 Tonnen giftiges Blei und etwa 1400 Tonnen Silber aus den Minen von Laurion in Attika. Und dabei produzierten sie eine gigantische Menge toxischen Dreck.

Begriffe für Umweltstandard oder Emissionsschutz stehen nicht auf der Vokabelliste aus dem Latein- oder Altgriechischunterricht, es handelt sich um Schöpfungen der Moderne. Handelten die Umweltzerstörer der Vergangenheit also in Unwissenheit, ahnten sie nicht einmal, welche Schäden sie anrichteten? "Das chemische Verständnis für die Stoffe fehlte, aber Krankheitssymptome wurden beobachtet", sagt Umwelthistoriker Frank Uekötter. Die Menschen registrierten sehr wohl, dass Arbeiter in den slowenischen Quecksilberminen sterbenskrank wurden oder in der Nähe von Metallhütten Bäume und andere Pflanzen schlecht wuchsen. Sie konnten nur nicht benennen, dass etwa Schwefeldioxid das Problem war und in Wäldern oder auf Feldern für Schäden sorgte.

Dennoch kursierten bereits im antiken Sprachraum sehr wohl Ausdrücke wie etwa "gravioris caeli" (schwerer Himmel), mit dem die chronische Dunstglocke über Rom bezeichnet wurde. Mit dem Wachstum der Städte zog der Rauch aus den Hütten auch über die Paläste und durch die Straßen - Luftverschmutzung entwickelte sich nun zu einem öffentlich wahrnehmbaren Phänomen.

Der Kaiser ließ über ein Recht auf saubere Luft diskutieren

"In fast jedem Haus brannte ein Herdfeuer, der Rauch zog allenfalls durch ein Loch in der Decke ab", sagt der Umwelt- und Stadthistoriker Dieter Schott von der TU Darmstadt, "die Wohnhäuser und die unmittelbare Umwelt der Menschen waren also stark verschmutzt." Schon damals ruinierten sich die Leute die Gesundheit. Befunde aus Ägypten, aus Peru, Großbritannien und vielen anderen Gegenden der Welt zeigen, dass die miese Luftqualität die Menschen umbrachte - und zwar zu Hause. In Mumien aus Ägypten befanden sich Lungen, die denen von Rauchern ähnelten. Die Menschen kochten in geschlossenen Räumen über offenem Feuer. Andere Möglichkeiten gab es nicht, und der Qualm hielt auch noch die Moskitos fern. Lungenkrankheiten waren deshalb weit verbreitet in den antiken Zivilisationen des Mittelmeerraums - so wie heute noch in den Entwicklungsländern, wo etwa 1,6 Millionen Menschen jährlich sterben, weil sie permanent den Qualm aus ihren Kochstellen einatmen müssen.

Etwa im antiken Rom kamen dann noch die vielen Abgase von Schmelzöfen, Schmiedewerkstätten, Töpfereien und anderen Manufakturen hinzu. Der Dichter Horaz schimpfte einst, dass der Rauch aus den Kochstellen der Römer die prächtigen Marmorgebäude der Stadt schwarz färbe. Während sein Kollege Seneca seine Flucht vor den giftigen Rauchdünstungen der Stadt schilderte, als verfasse er ein kleine Werbebroschüre für Luftkurorte auf dem Lande: Endlich mal frei durchatmen, endlich den giftigen Abgasen der Stadt entkommen und in idyllischen Weingärten Vitalität tanken! Der römische Kaiser Justinian war im 6. Jahrhundert dann gezwungen, auf die vielen Klagen über die verpestete Luft in der Stadt zu reagieren und ließ diskutieren, ob jedem römischen Bürger qua Geburt ein Recht auf saubere Luft zustünde.

Weil die Wälder gerodet waren, stieg London auf billige Kohle um

Umweltsünden und verpestete Luft sind ein historischer Dauerbrenner. In London vermieste minderwertige Kohle aus der Gegend um Newcastle die Luftqualität. Die wachsende Bevölkerung hatte die Wälder schon so weit gerodet, dass Feuerholz unerschwinglich wurde. Also verbrannten die Bewohner der Stadt an der Themse eben billige "See-Kohle", die Kähne aus Newcastle heranschafften - mit hässlichen Folgen für die Luftqualität. Der einst legendäre Londoner Smog wurde quasi im 13. Jahrhundert erfunden. Höchste Stellen befassten sich mit dem Anschlag auf Geruchssinn und Leben der Bürger: König Edward I. untersagte 1307 den Kalkbrennern innerhalb der Stadtgrenzen die grässliche Kohle aus dem Norden zu verfeuern. Und Königin Elizabeth I. mahnte 1578 Brauereien, ihr Ale doch gefälligst ohne Kohlefeuer zu brauen, schon des Geschmacks wegen. Nur war Feuerholz über lange Perioden zu teuer - der Raubbau an den Wäldern Europas spielte da eine Rolle.

So erstickte die wachsende Metropole an der Themse regelmäßig in den schwefeligen Schwaden des Kohlerauchs. Darüber schimpften frühe Umweltaktivisten. John Evelyn veröffentlichte 1661 die Schrift "Fumifugium", eine frühe Version einer Öko-Apokalypse, in der er die schlimmen Folgen der verpesteten Luft Londons ausmalt: Katarrh, Schwindsucht, chronischer Husten und andere Lungenkrankheiten plagten die Londoner mehr als die Bewohner irgendeiner anderen Stadt, schrieb er, und auch das Verhalten der von Giften gebeutelten Menschen sei aus dem Lot geraten. Selbst im königlichen Palast zu Whitehall hänge der Qualm mitunter so dicht, dass man sich kaum auf den Beinen halten, geschweige denn sein Gegenüber erkennen könne. Sein Forscherkollege John Graunt wies daraufhin, dass in London die Todesrate im Vergleich zum Land sicherlich wegen der schädlichen Emissionen der See-Kohle so viel höher liege.

Die gute, alte Zeit sie war dreckig und giftig. Smog, Qualm und verpestete Luft ziehen durch die Jahrhunderte. Die Spuren der Schwermetalle liegen noch heute in den Gletschern der Welt; und die Bewohner der großen Städte der Antike und des Mittelalters husteten den Qualm der unzähligen Feuer aus ihren schwarzen Lungen. Es klingt absurd, doch ausgerechnet im Zeitalter des Klimawandels und der schlimmsten Umweltzerstörungen aller Zeiten ist die Luftqualität in den Städten Westeuropas so gut wie nie zuvor. Das Verhältnis kehrt sich gewissermaßen um: Vor Jahrhunderten war Umweltzerstörung ein lokales Phänomen, das mit der Industrialisierung zu einem globalen Problem heranwuchs. Heute ist dieses globale Problem akuter denn je, doch haben sich lokal die Umstände meist verbessert: Dort ist der übelste Qualm verzogen.

© SZ vom 28.02.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: