Tote Artgenossen:Trauer in der Wildnis

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Tiere leiden wie Menschen - wenn nahestehende Artgenossen sterben, empfinden auch Tiere ein Gefühl von Trauer. Jedenfalls sprechen viele Anzeichen dafür.

Tina Baier

Am 10. Oktober 2003 um 18.14 Uhr brach die Elefantenkuh Eleanor zusammen. Sie war die Anführerin einer Herde im Samburu-Nationalpark in Kenia. Fünfeinhalb Monate zuvor hatte sie ihr letztes Kalb geboren.

Rein physiologisch haben viele Tierarten die Voraussetzung, Trauer zu empfinden. (Foto: Foto: dpa)

Die engste Vertraute der Matriarchin war ein Tier namens Maya, in deren Begleitung sie innerhalb von vier Jahren 101-mal gesehen worden war. Iain Douglas-Hamilton vom Projekt "Save the elephants" wusste fast alles über Eleanor. Nun wurden er und sein Team auch Zeugen ihres Todes.

Die Wissenschaftler filmten und dokumentierten Eleanors letzte Stunden ebenso wie die Reaktionen der anderen Elefanten. Ihre im Internet veröffentlichte Untersuchung scheint wissenschaftlich zu untermauern, was den Tieren in vielen Erzählungen nachgesagt wird: Elefanten trauern um ihre Toten (Applied Animal Behaviour Science, im Druck).

Zwei Minuten nachdem Eleanor gestürzt war, rannte eine Elefantenkuh, der die Forscher den Namen Grace gegeben hatten, mit erhobenem Schwanz auf Eleanor zu. Sie betastete die sterbende Matriarchin mit dem Rüssel, hievte sie mithilfe ihrer Stoßzähne wieder auf die Füße und schob dann von hinten an, um sie zum Gehen zu bewegen.

Doch Eleanor war zu schwach und brach kurze Zeit später wieder zusammen. "Grace machte einen sehr gestressten Eindruck, sie trompetete und stieß und schob Eleanor weiter mit ihren Stoßzähnen", schreibt Douglas-Hamilton. Als sie keinen Erfolg damit hatte, blieb Grace bei der sterbenden Elefantenkuh stehen bis es Nacht wurde.

Graugans mit Nachwuchs. (Foto: Foto: dpa)

Am nächsten Morgen um elf Uhr starb Eleanor. In den folgenden sieben Tagen besuchten sowohl Tiere aus Eleanors Familie als auch nicht verwandte Elefanten den Ort ihres Todes. Die Tiere betasteten den Kadaver mit ihrem Rüssel, stupsten ihn mit einem Fuß an oder standen einfach nur still daneben. Die meiste Zeit verbrachte die Elefantenkuh Maya in der Nähe ihrer toten Freundin.

"Das sieht alles nach Trauer aus", sagt Norbert Sachser, Verhaltensbiologe an der Universität Münster. Trotzdem lasse sich mit wissenschaftlichen Methoden aber nicht eindeutig nachweisen, dass Tiere beim Verlust eines Herdenmitglieds oder des Partners das gleiche empfinden wie Menschen in einer analogen Situation.

Auch körperliche Reaktionen gleichen sich

Allerdings spricht einiges dafür, dass es so sein könnte: Rein physiologisch haben viele Tierarten die Voraussetzung, Trauer zu empfinden. Das limbische System, wo man im menschlichen Gehirn den Sitz der Gefühle vermutet, ist auch bei vielen Tieren vorhanden. Die ringförmige Gehirnstruktur am Boden der Großhirnrinde ist evolutionär betrachtet ein uralter Gehirnteil, den sogar Reptilien und Vögel besitzen.

Auch die körperlichen Reaktionen trauernder Tiere und Menschen scheinen einander zu gleichen: Norbert Sachser hat in einem Experiment die Reaktion männlicher Meerschweinchen auf den Verlust ihres Lieblingsweibchens gemessen.

Er isolierte ein Männchen für eine Stunde aus seiner Kolonie und setzte es allein in einen Käfig. Sofort stieg die Konzentration des Stresshormons Cortisol im Blut des Tieres. Das änderte sich auch nicht, als dem Männchen ein ihm unbekanntes Weibchen Gesellschaft leistete.

Auch ein bekanntes Weibchen aus seiner Kolonie konnte den gestressten Meerschwein-Mann nicht beruhigen. Erst als Sachser das Lieblingsweibchen in den Käfig setzte, sank der Cortisolspiegel im Blut des Männchens wieder. "Auch bei trauernden Menschen ist die Konzentration der Stresshormone im Blut erhöht", sagt Sachser.

Ein egoistisches Gefühl

Eine Grundvoraussetzung für die Fähigkeit zu trauern ist offenbar, dass sich die Tiere individuell kennen. Das ist bei vielen Arten der Fall, die in sozialen Gruppen zusammenleben. "Außerdem müssen die Tiere in der Lage sein, Bindungen untereinander aufzubauen", sagt Tobias Deschner vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Besonders gut lässt sich Trauer daher an monogam lebenden Arten erforschen, die sich ein Leben lang an einen Partner binden.

Konrad Lorenz, der das Thema Emotionen bei Tieren eigentlich gemieden hat, weil es zu seiner Zeit als unwissenschaftlich galt, hat dennoch das Verhalten von Graugänsen beschrieben, die ihre Lebensgefährtin verloren haben.

Solche Tiere "zeigen alle Symptome, die John Bowlby in seiner berühmten Arbeit 'Infant Grief' (Kindliche Trauer) an kleinen Menschenkindern beschrieben hat. Die Muskulatur erschlafft, die Augen sinken tief in die Augenhöhlen zurück, das ganze Individuum wirkt schlapp, es lässt im buchstäblichen Sinn den Kopf hängen".

Lorenz hat beobachtet, dass sich das gesamte Verhalten des Vogels durch den Tod der Partnerin verändert: "Auch wenn der Witwer vorher noch so hoch im Rang stand, lässt er sich nunmehr von den schwächsten und rangniedrigsten Artgenossen widerstandslos verjagen."

Eine besonders starke Bindung besteht bei vielen Tierarten zwischen Mutter und Kind. Dementsprechend heftig fallen die Reaktionen aus, wenn einer von beiden stirbt. Der holländische Primatenforscher Frans de Waal hat beobachtet, dass Affenmütter den Leichnam eines toten Kindes tagelang mit sich herumschleppen, "bis er buchstäblich zerfällt".

Und Jane Goodall hat in Tansania das Schicksal des achtjährigen Schimpansen Flint nach dem Tod seiner Mutter Flo beobachtet und dokumentiert. Demnach saß Flint stundenlang neben Flos Leichnam und zog sie immer wieder an der Hand.

Drei Tage nach ihrem Tod stieg er auf einen Baum und betrachtete den Platz, an dem er zusammen mit ihr übernachtet hatte. Er wurde von Tag zu Tag apathischer und starb weniger als einen Monat nach seiner Mutter.

Trauer ist Stress

Ob Flint das gleiche empfunden hat wie ein trauernder Mensch, wird sich nie klären lassen. Doch viele Verhaltensbiologen nehmen inzwischen an, dass der gemeinsame Nenner tierischer und menschlicher Trauer Stress ist, ausgelöst durch das Gefühl, allein und schutzlos zu sein.

Darauf deutet auch eine Studie von Naomi Eisenberger von der University of California in Los Angeles hin. Die Wissenschaftlerin lud Probanden zu einem virtuellen Spiel ein, bei dem drei Akteure auf dem Bildschirm einander einen Ball zuwarfen.

Die Testperson glaubte, hinter ihren beiden Mitspielern würden sich echte Menschen verbergen. In Wahrheit spielte sie mit einem Computer. Dabei kam es immer wieder zu Situationen, in denen die beiden computergesteuerten Spieler einander minutenlang den Ball zuwarfen und den Probanden ignorierten. Der fühlte sich ausgeschlossen und traurig, wie er später angab.

In genau diesen Momenten machte Eisenberger Aufnahmen vom Gehirn der Versuchsperson und stellte fest, dass ein bestimmter Teil des limbischen Systems, der vordere Gyrus cinguli, besonders aktiv war. Dasselbe Gehirnareal läuft bei jungen Meerschweinchen auf Hochtouren, wenn man sie von ihrer Mutter trennt.

Trauer ist egoistisch

"Trauer ist ein eher egoistisches Gefühl", sagt Tobias Deschner. Um zu trauern muss man sich nicht in die Situation eines anderen Wesens hineinversetzen können oder die Folgen einer Handlung oder eines Geschehens verstehen. Diese im Fachjargon "Theory of mind" genannte Fähigkeit vermuten Wissenschaftler nur bei wenigen Tieren, darunter Schimpansen und Orang-Utans.

Doch ein Hund, der um seinen toten Besitzer trauert, muss nicht unbedingt begreifen, dass er ihn nie wieder sehen wird und dass der Tod etwas Endgültiges ist. Sein Verhalten ist möglicherweise lediglich Ausdruck von Verunsicherung und Verwirrung über die ungewohnte Situation.

Ob die Elefanten im Samburu-Nationalpark ein Verständnis vom Tod haben, kann auch Fritz Vollrath, Zoologe an der University of Oxford und Mitautor der Untersuchung, nicht beurteilen. Es gibt allerdings eine Studie, die darauf hinweist, dass Elefanten speziell die Überreste von Artgenossen betasten.

Knochen von anderen großen Pflanzenfressern und künstliche Objekte, die Wissenschaftler den Tieren im Amboseli-Nationalpark in den Weg legten, erregten ihr Interesse kaum. Das Betasten der Knochen mit dem Rüssel kann nach Ansicht von Vollrath einen ganz praktischen Grund haben: Informationen über die Todesursache zu sammeln und etwa dort, wo ein Elefant von einem Raubtier angefallen wurde, in Zukunft besonders aufmerksam zu sein.

Auf jeden Fall hatten die Elefanten im Samburu-Nationalpark nach dem Tod ihrer Anführerin Eleanor allen Grund, sich gestresst, allein gelassen und schutzlos zu fühlen - also all jene Emotionen zu haben, die als Ursprung von Trauer gelten.

Denn eine erfahrene Matriarchin sichert in kritischen Situationen das Überleben der Familie, sagt Fritz Vollrath, etwa weil sie weiß, wo es in Trockenzeiten noch Wasser gibt. Tatsächlich verlor Eleanors Familie nach dem Tod der Anführerin zwei Kälber und zerfiel in einzelne Splittergruppen.

© SZ vom 19.08.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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