Neu Delhi (dpa) - Wie aus einem Horrorfilm: Hunde greifen ein Kind auf einem Parkplatz an. Die Tiere ziehen an den Kleidern, beißen dem Jungen in Arme, Beine und Gesicht. Später stirbt der Fünfjährige. Das passierte Medien zufolge zum Beispiel im März in der indischen Stadt Hyderabad. Ähnliche Berichte liest man in Indien alle paar Tage in den Medien. Es gibt deshalb auch Ratgeber-Artikel. „Wie schützt du dich, wenn ein streunender Hund angreift? Hier sind 5 Tipps“, schrieb kürzlich etwa die „Hindustan Times“. Sie riet zum Beispiel: direkten Augenkontakt vermeiden, Abstand halten, nicht wegrennen.
Die indische Verfassung unterstreicht eigentlich die Koexistenz von Menschen und anderen Lebewesen sowie das Mitgefühl mit ihnen. Man sieht auf den Straßen in indischen Städten regelmäßig streunende Hunde, Katzen, Kühe und Affen. Aber die vielen Angriffe von Straßenhunden haben dazu geführt, dass immer wieder das staatliche Sterilisierungsprogramm für die streunenden Hunde kritisiert wird und teils drastischere Maßnahmen gefordert werden wie das gezielte Töten der Hunde, um das Problem in den Griff zu kriegen.
Die, die für das Töten von Straßenhunden sind, argumentieren, dass dies nicht brutal ablaufe und etwa auch in den USA praktiziert werde. Ein Hund brauche einen Besitzer, der sich um ihn kümmere. Sei dies nicht der Fall, müsse er in eine Auffangeinrichtung. Dann könne er von dort adoptiert oder vielleicht getötet werden. Letztes Jahr wollte der Bundesstaat Kerala vor dem Höchsten Gericht erreichen, gewisse Hunde töten zu dürfen - doch das Anliegen wurde abgelehnt.
„Wenn Gewalt an Tieren nicht gebilligt werden kann, bedeutet das nicht, dass man Hunden freien Durchlass auf den Straßen gewähren muss“, schreibt der Urbanisierungsexperte Ramanath Jha von der Denkfabrik Observer Research Foundation in der Hauptstadt Neu Delhi auf der Website seiner Organisation: „Es gibt die ganze Zeit Nachrichten aus vielen Städten über Todesfälle, Bisse und bösartige Straßenhunde. Das macht das Leben gefährlich und schwierig - besonders für Kinder und die Alten.“
Mehr als 1,9 Millionen Hundebisse
Jha argumentiert, das staatliche Hundesterilisierungsprogramm habe sein Ziel bislang verfehlt, die Zahl der Straßenhunde zu reduzieren. Die Kosten für das Programm seien hoch und es sei zu wenig Geld da.
Das Sterilisierungsprogramm wird von Lokalregierungen und Privatspenden finanziert. Vorwiegend Nichtregierungsorganisationen führen es aus. Sie sterilisieren Straßenhunde und impfen sie gegen Tollwut.
Die Nichtregierungsorganisationen, aber auch Hundefreunde und Tierschützer machen die kursierenden Tötungsvorschläge wütend. Ayesha Christina von der Nichtregierungsorganisation Neighbourhood Woof in Neu Delhi sagt etwa: „Es ist ein gutes System. Es muss einfach effektiver und breiter umgesetzt werden.“ Sie ergänzt: „Einige Kritiker sagen, nur aggressive und beißende Hunde sollen getötet werden. Aber wer kann genau entscheiden, welche Hunde das sind?“
Laut Schätzungen der Regierung gab es im Jahr 2019 rund 15,3 Millionen Straßenhunde in Indien. Das Land hat rund 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner.
Etliche Experten glauben, dass die Hundeschätzung zu niedrig ist. Die Tierärztin Gowri Yale von der Nichtregierungsorganisation Mission Rabies wird von der „Times of India“ so zitiert: „2016 haben wir begonnen, in Goa zu arbeiten und uns wurde gesagt, dass es eine geschätzte Hundepopulation von 30.000 gebe. Aber wir merkten, dass die Population rund 130.000 betrug.“
Nach Daten, die im indischen Parlament präsentiert wurden, wurden 2022 mehr als 1,9 Millionen Hundebisse gemeldet. Doch viele glauben, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt.
WHO: Bis zu 20.000 Tote durch Tollwut
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt zudem, dass in Indien jedes Jahr 18.000 bis 20.000 Menschen an Tollwut sterben - was rund ein Drittel der Tollwut-Todesfälle weltweit ausmache. Die Krankheit kann mit einem Impfstoff normalerweise verhindert werden. Sie wird durch Speichel vorwiegend von Hunden auf Menschen übertragen.
Hunde seien von Natur aus eigentlich freundlich und griffen nur in Ausnahmesituationen an, betont Ambika Shukla von der Organisation People for Animals, die ebenfalls am Programm zur Sterilisierung teilnimmt. Etwa wenn Rüden rollig seien oder Weibchen gerade Junge geboren haben und sie beschützen wollten. Oder wenn andere Hunde ins Territorium kämen. „Das staatliche Programm hilft durch das Sterilisieren und Impfen in all diesen Situationen“, sagt Shukla.
Die Debatte über Straßenhunde bleibt in den indischen Medien und auf Social Media heftig. Die Regierung hofft, das Tollwutproblem bis 2030 in den Griff zu bekommen. Ayesha Christina von Neighbourhood Woof in Neu Delhi findet das Erreichen dieses Ziels schwierig. So fütterten Tierfreunde die Straßenhunde jeden Tag - das trage keinesfalls zum Schrumpfen der Population bei.
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