Fragebogen "Alte Schule":Saša Stanišić

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Saša Stanišić, 1978 in Bosnien geboren, floh 14-jährig mit seinen Eltern nach Heidelberg, wo er Gesamtschüler, Gymnasiast und Slawistik-Student war. Nach einigen Schriftstellerpreisen und -stipendien erschien 2014 sein zweiter Roman "Vor dem Fest", der in Hamburg zum Abiturstoff avancierte; 2019 wurde sein Roman "Herkunft" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Soeben ist sein Kinderbuch "Hey, hey, hey, Taxi!" erschienen. (Foto: Katja Saemann/Mairisch Verlag)

Marx, Mama und Freunde, die man noch nicht hat

Erste Reihe oder letzte Bank?

In meiner Grundschule gab es feste Sitzpläne. Ich saß vier Jahre lang genau in der Mitte, dritte Bank, neben Edin, der die besten Locken des Universums hatte.

Influencer oder Follower?

In Deutschland habe ich mich mal für die Klassensprecherwahl aufstellen lassen, aber die Klasse war noch nicht reif für den real existierenden Sozialismus.

Mein Hobby in der Pause?

In Bosnien sind wir losgerannt, um Fußball zu spielen oder einander Schneebälle in die Fresse zu werfen. In Deutschland, in der Pubertät, tat man so, als hätte man Besseres vor, als mit anderen zu sprechen.

Meine größte Stunde?

Mein erstes Referat auf Deutsch war über den Marxismus. Ich war aufgeregt, weil ich nach anderthalb Jahren Deutschlernen sprachlich noch unsicher war und auch das Thema nicht ganz begriffen hatte. Meine Mutter, die in Jugoslawien Politologin gewesen war, erklärte mir alles. Und mit dem Mut desjenigen, der etwas Schwieriges begriffen hat, stürzte ich mich in den Vortrag. Danach sangen alle die Internationale. Quatsch, ich kriegte eine 2-. Und bin bis heute stolz auf mich, Marx und Mama.

Das würde ich gern vergessen:

Die ersten prekären Monate nach unserer Flucht. Ich hatte kaum Kleidungsauswahl, andere Pausenbrote, eine fremde Sprache, Freunde, die noch keine Freunde waren, Vorgänge, die ich nicht verstand. Wäre ich nicht an eine internationalen Schule gekommen, hätte das sicher noch tiefere Spuren hinterlassen.

Ein Denkmal gebührt ...

... Werner Nickisch, meinem Deutschlehrer in der zehnten Klasse. Er hat mich so gefördert, dass Sie heute von mir wissen wollen, wie meine Schulzeit war.

Lernen ist ...

... sich die Welt fassbarer machen, ohne ihre Unfassbarkeit aus den Augen zu verlieren.

Noten sind ...

... ein unnötiges Druckmittel auf Kinder, die ohnehin unter Druck stehen.

Schule müsste ...

... von der Lehrer*innenausbildung bis zur Raumgestaltung so sein, dass alle Lernenden wissen: Dieser Ort ist gut für mich.

Entschuldigen muss ich mich bei ...

... Flo. Sorry, Flo.

Entschuldigen muss sich bei mir ...

... niemand. Blabla, das steht hier sicher bei vielen, obwohl Schule die reinste Hölle sein kann. Für mich war sie aber da, war sie gut und tat mir meist gut, also hatte ich Glück. Und habe jetzt das Glück, dass sich niemand bei mir entschuldigen muss, denn ich wüsste schlicht nicht, wofür.

Zur Schule hat jeder was zu sagen. War ja jeder da. Deshalb gibt es einmal die Woche "Alte Schule".

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