Psychologie der Pandemie:Quälend lange Vorfreude

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(Foto: Imago/Shutterstock/SZ-Grafik)

Die Sehnsucht nach Normalität ist groß, doch noch herrscht die pandemische Unsicherheit. Umso wichtiger ist die Hoffnung, die einen durch die kommenden Monate trägt.

Von Werner Bartens

Wieder mal eine Video-Besprechung, jeder hat sich vor dem Bildschirm eingerichtet. Der Professor am Computer fragt die Erstsemester im Einführungsseminar, wie sie damit zurechtkommen, dass fast alle Veranstaltungen an der Universität online ablaufen. "Irgendwie geht es", sagt ein Student. "Aber ich will mich gar nicht daran gewöhnen." Die "neue Normalität", in der es sich einzurichten gelte, ist ein Schlagwort in diesen trüben Herbsttagen. Die meisten Menschen wünschen sich aber nichts Neues, sondern die alte Normalität zurück. Dieses zwar unbestimmte, aber wohlig wärmende So-wie-früher-Gefühl.

"Ich will an der Lage nichts beschönigen, aber Menschen sind schon toll", sagt Cornelia Betsch. "Sie können sich unheimlich schnell an neue Situationen anpassen." Regelmäßig alle ein, zwei Wochen erfasst die Expertin für Gesundheitskommunikation von der Uni Erfurt mit ihrem Team Stimmungen während der Pandemie. In den ersten beiden Novemberwochen ist demnach das "affektive Risiko", also Ängste und das Gefühl, ständig "an Corona" denken zu müssen, leicht zurückgegangen und wird "nur" noch von 42 Prozent der Befragten als hoch eingestuft. 14 Tage zuvor hatten diesen Eindruck noch fast 50 Prozent.

"Für das Schutzverhalten und die Akzeptanz der Maßnahmen ist das affektive Risiko relevant", sagt Betsch. "Mit den steigenden Fallzahlen im September und Oktober stieg auch das gefühlte Risiko. Seit Beginn des Lockdowns light geht die Risikowahrnehmung leicht zurück, es scheint Gewöhnung einzusetzen." Anfang der Woche war der Optimismus noch größer. "Wir hatten doch alle das Gefühl, jetzt könnte es gut werden - Trump war weg und der Impfstoff da", sagt Betsch. "Es war schön, mal etwas anderes zu fühlen, und das Euphoriebedürfnis ist ja in diesen Tagen groß."

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Allerdings ist trotz der positiven Meldungen um neue Impfstoffe unklar, wann die Vakzine auf den Markt kommen. Und wenn sie eines Tages da sein sollten, ist ungewiss, wie gut sie tatsächlich schützen, wer wann die Impfung erhält und wie lange es dauert, bis die Einschränkungen im Alltag fallen. Derzeit zucken viele Pandemie-Geplagte ja schon zusammen, wenn sie im Film sehen, dass sich Menschen umarmen oder in Gruppen zusammentun.

Chronische Unsicherheit ist kaum auszuhalten, es ist eine psychologische Folter. "Die Menschen haben ein Fundamentalbedürfnis nach Kontrolle und Vorhersagbarkeit", sagt Mario Gollwitzer, Sozialpsychologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Das, was man tut, soll auch zu etwas führen, während das Gefühl, ausgeliefert zu sein, schwer zu ertragen ist und sogar krank machen kann." Die Pandemie konfrontiert die Gesellschaft gemeinerweise gleich mit einer doppelten Ungewissheit, der Unsicherheit der Lage und der Unsicherheit der Dauer.

Das Virus selbst trägt mit seinen Tücken zur unübersichtlichen Situation bei. "Es gibt eine Vielfalt der Symptome und eine große Variationsbreite im Krankheitsverlauf, vieles an dem Virus ist noch immer unbekannt", sagt Gollwitzer. "Das macht es besonders schwierig, sich darauf einzustellen, während man sich an andere Krankheiten gewöhnt hat." Und tatsächlich irritiert es ja, wenn zwar einerseits ein Zusammenhang zwischen dem Alter und der Schwere der Erkrankung belegt ist, andererseits - wenn auch selten - Berichte über zuvor gesunde 20- oder 30-Jährige erscheinen, die auf der Intensivstation behandelt werden müssen.

"Menschen sind bereit, nahezu alles zu ertragen - wenn sie wissen, warum."

In Umfragen, die Gollwitzer und sein Team unternommen haben, zeigt sich, dass die Menschen besonders mit ungewissen Zeitvorgaben zu kämpfen haben. "Die Dauer der Einschränkung ist für die meisten Menschen wichtiger als deren Intensität", sagt der Psychologe. Vereinfacht gesagt, ist die Mehrheit der Menschen einverstanden, über eine absehbare Zeit zu verzichten und sich zurückzuhalten - wenn es nur nicht zu lange dauert. Ein paar Wochen, wenige Monate sind okay, nach einem halben Jahr oder länger sinkt die Bereitschaft deutlich. "Menschen sind bereit, nahezu alles zu ertragen - also auch, dass wichtige Sehnsüchte nicht erfüllt werden - wenn sie wissen, warum", ergänzt Sozialpsychologe Dieter Frey. "Wir brauchen Perspektiven, dann sehen die Menschen, es lohnt sich, wenn ich selber aktiv bin. Die Gefahr ist dann jedoch, die Bedrohung verzerrt einzuschätzen und zu sorglos zu sein im Sinne von: Wir haben es überstanden."

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Allerdings ist es erstaunlich, wie sehr sich Menschen auf Veränderungen einstellen und sie in kurzer Zeit anders bewerten. "Die Leute unterschätzen, wie gut sie in der Lage sind, sich an ein anderes Verhalten zu gewöhnen", sagt Gollwitzer. "Und hinterher können sie sich nicht daran erinnern, dass sie es vorher so schlimm fanden." Als affektiven Vorhersagefehler bezeichnen Psychologen das verbreitete Phänomen. Wobei Fehler womöglich ein zu negativer Begriff ist, schließlich schafft es die körpereigene PR-Abteilung im Kopf, ein imaginiertes Übel nachträglich besser dastehen zu lassen.

Getäuscht werden mag man in dieser Wellenbewegung zwischen der Zuversicht, es bald geschafft zu haben, und dem Trübsinn, dass es endlos so weitergeht im Corona-Knast, auf keinen Fall. Sehnsucht nach Normalität ist ein Urbedürfnis, der Mensch giert nach angenehmen Gefühlen und guten Nachrichten. "Positive innere Bilder, Gemeinschaft und Ziele, auf die wir uns freuen, geben Kraft und Orientierung", sagt Harald Gündel, Chef der Psychosomatik an der Uniklinik Ulm. "Negative Erwartungen machen hingegen Unlust und Angst und lassen uns den Schwung verlieren." Die Aussicht auf ein Ende der Einschränkungen und einen Impfstoff lässt die Menschen mit mehr Mut und besserer Stimmung durchhalten. "Vorfreude führt zur Ausschüttung von Belohnungshormonen im Gehirn", sagt Gündel.

Allerdings gibt es viele Hinweise dafür, dass diese Erwartung nicht enttäuscht werden darf. "Je euphorischer wir jetzt sind, desto ätzender wird es, wenn es dann doch länger dauert", sagt Psychologin Betsch. Heikel kann das Thema Weihnachten werden. Während sich in Umfragen der Erfurter Forscher größtenteils die Bereitschaft zeigt, auf Partys und enge Kontakte zu verzichten, ist größerer Widerstand zu erahnen, falls das wohl wichtigste Familienfest des Jahres durch Regularien der Seuchenschützer eingeschränkt werden sollte.

Für Politiker ist das Dilemma schwer aufzulösen. Die Regierenden wollen vermitteln: Wir haben alles im Griff. Manchmal geschieht dies durch Aktionismus und Symbolpolitik. "Eigentlich müssten sich die Gesundheitsminister in jedem Land hinstellen und sagen: Versprechen kann ich euch nichts", sagt Sozialpsychologe Gollwitzer. Das würde jedoch das Gefühl der Unkontrollierbarkeit verstärken, wogegen wiederum klare Ansagen und Zeitvorgaben helfen. Würde ein angekündigtes Datum für die Lockerungen nicht eingehalten oder der Impfstoff hätte ungeahnte Nebenwirkungen, wäre der Jammer hingegen groß. "Nach allem, was wir wissen, wären die Enttäuschung und Frustration dann ungleich stärker als die psychischen Kosten der Einschränkung jetzt", sagt Gollwitzer.

"Menschen wollen Planungssicherheit, vor allem die Deutschen", sagt Dieter Frey. "Aber man muss lernen, mit Ungewissheit zu leben. Wichtiges ist explizit zu machen, was wir wissen - und was nicht." Dann könne niemand sagen, er habe von nichts gewusst. Dies bedeute aber auch, jetzt nicht auszuschließen, dass der teilweise Lockdown im Dezember weitergeht.

Der Umgang mit der Pandemie zeigt nebenbei die Grenzen des Realitätsprinzips. Üblicherweise werden eigene Ängste und Sorgen mit verlässlichen Informationen von außen abgeglichen. So mendelt sich eine belastbare Mittellage heraus. Derzeit ist das schwierig, weil sich Wissen so schnell ändert oder nicht seriös abgesichert ist. Das Imaginäre wuchert, weil der reale Gegenhalt fehlt. Je nach Tagesform geht der geplagte Zeitgenosse dann wohlgemut in die nächste Pandemie-Woche - oder eben verunsichert und deprimiert. Und dann ist auch noch November.

In Europa haben Psychologen denn auch ein neues Phänomen entdeckt, die "Pandemic Fatigue". Viele Menschen sind es leid, sich weiter mit Corona zu beschäftigen, sind demotiviert und wollen keine zusätzlichen Informationen, sondern Ruhe vor dem Virus. Manchmal geht diese Haltung damit einher, dass sie weniger bereit sind, Corona-Auflagen zu folgen.

Allzu verständlich ist es in der Sehnsucht nach Normalität, gute Nachrichten zu überschätzen. "Negative Perspektiven bewirken hingegen Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst und Resignation", sagt Frey. Zudem müsse Sinn geboten werden, wenn Restriktionen gefordert sind. "Motivation erreicht man, indem man transportiert, was die Maßnahmen mit den eigenen Lebensumständen zu tun haben. You can't over-communicate!" Und dann ist da die Frage: Was kann ich tun? Vielen anderen geht es gerade schlechter, Verstimmungen nehmen zu. "Statt Hilfe von außen zu erwarten oder zu jammern, sollte man sich überlegen, wie kann ich die Welt in meiner Umgebung besser machen", sagt Frey. "Was ist mein Beitrag, wo bringe ich mich ein?"

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