Strahlenbiologe zu Atomunfall in Japan:"Schlimmer als Tschernobyl"

Lesezeit: 3 Min.

Zu viele Menschen betroffen und von der Regierung heruntergespielt: Die Atomkatastrophe in Fukushima könnte Strahlenbiologe Edmund Lengfelder zufolge noch schlimmere Folgen haben als die Katastrophe von Tschernobyl 1986.

Die Situation in Japan ist Professor Edmund Lengfelder zufolge dramatischer als von der Regierung dargestellt. Der Wissenschaftler vom Otto-Hug-Strahleninstitut in München sagte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa, dass auch bei deutschen Atomkraftwerken "einiges im Argen" liege. Lengfelder setzt sich für die Opfer der Katastrophe in Tschernobyl ein und gründete die Gesellschaft für Strahlenschutz.

Herr Lengfelder, die Meldungen darüber, was wirklich in Japan passiert, sind widersprüchlich. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Lengfelder: "Zunächst muss man sagen, dass wahrscheinlich mehrere Reaktoren an der Küste betroffen sind. Die werden alle mit Meerwasser gekühlt. Und es ist auch denkbar, dass die Rohre, die Wasser aus dem Meer holen, bei mehreren Reaktoren beschädigt sind durch das Erdbeben."

Wie viele Liter Wasser sind nötig, um ein Atomkraftwerk wie in Fukushima zu kühlen?

Lengfelder: "Ein 800-Megawatt-Kraftwerk hat die doppelte thermische Leistung, also 1600 Megawatt. Um die zu kühlen, müssen Sie pro Sekunde viele Kubikmeter Wasser haben. Pro Sekunde! Nicht umsonst werden bei uns Atomkraftwerke an großen Flüssen gebaut."

Das Reaktorgebäude in Fukushima wurde mit Meerwasser geflutet. Reicht das aus?

Lengfelder: "Das Fluten reicht nicht aus - das Wasser muss ja ständig erneuert werden, weil es sich sehr schnell stark erhitzt."

Die japanische Regierung verteilt Jodtabletten an die Bevölkerung, um eine Aufnahme von radioaktivem Jod durch die Schilddrüse zu verhindern. Denken Sie, dass genügend Tabletten vorhanden sind?

Lengfelder: "Ich denke schon. Bei der großen Menge an Atomkraftwerken werden sie genügend Tabletten haben. Die Frage ist, ob die Bevölkerung die rechtzeitig bekommen hat. Sie müssen diese Tabletten einnehmen, bevor die radioaktive Wolke da ist."

Die Regierung hat außerdem eine Sperrzone von 20 Kilometern um das Atomkraftwerk eingerichtet.

Lengfelder: "Um Tschernobyl herum hat die Sowjetunion damals eine Sperrzone mit 60 Kilometern Durchmesser eingerichtet. Das war in manchen Gebieten bei weitem nicht ausreichend. Es waren Gebiete betroffen, die in bis zu 400 Kilometern Entfernung liegen. Andere Flächen waren zum Teil weniger belastet als der Bayerische Wald. Man muss kleinräumig messen und eine Karte der Belastung erstellen - was in einem Erdbebengebiet allerdings schwerer möglich ist."

Ist die japanische Bevölkerung ausreichend über die Gefahren aufgeklärt worden?

Lengfelder: "In allen Industrieländern, die auf Kernkraft setzen, ist die Bevölkerung über das Gefahrenpotenzial nicht aufgeklärt worden. Nicht einmal, wenn so etwas wie in Japan passiert. Alle Staaten, die ich kenne, bagatellisieren die Folgen und sagen, bei uns ist alles sicher."

Das heißt, in Japan könnte alles noch schlimmer sein als bisher verlautet?

Lengfelder: "Jede Regierung wird versuchen, die Wahrheit nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit zu geben. Ich würde mich nicht wundern, wenn mehr Reaktoren betroffen wären."

Wie lange könnte Radioaktivität aus dem Reaktorgebäude in Japan austreten?

Lengfelder: "Dort könnte die Freisetzung 10, 20, 30 Stunden dauern. Problematischer ist es an der Küste, wo Radioaktivität durch Wassertropfen gebunden wird. Besonders schlimm ist es, wenn es regnet. Dann wird die Radioaktivität mit dem Boden verbunden."

Die Wetterbedingungen nach der Katastrophe wurden als günstig bezeichnet. Der Wind zog aufs Meer. Könnte die radioaktive Belastung dennoch eine große Gefahr sein?

Lengfelder: "Der Wirbel im Osten zieht ja derzeit nach Norden und dann erst aufs Meer hinaus. Diese Gebiete sind also betroffen. Und im Nahfeld des Kraftwerks kann es entgegen der Windrichtung zur Ausbreitung kommen. Wie gesagt: Das muss man kleinräumig messen."

Sie haben Tschernobyl angesprochen. Lässt sich die jetzige Katastrophe überhaupt damit vergleichen?

Lengfelder: "Der Ablauf ist bisher unterschiedlich. In Tschernobyl hatten wir eine massive Zerstörung der Gebäude. Das ist in Japan ja angeblich nicht der Fall - inwieweit das wahr ist, darüber kann ich nur spekulieren. Bei uns und in Japan haben Atomkraftwerke außerdem ein 20 bis 30 Mal so hohes Radioaktivitätsinventar, weil die Brennstäbe nicht alle paar Wochen ausgetauscht werden, sondern alle drei Jahre. Außerdem war die Besiedlungsdichte um Tschernobyl nur ein Zehntel so hoch wie bei uns - in Japan dagegen ist sie zwei- bis dreimal so hoch. Ich gehe davon aus, dass es schlimmer wird als in Tschernobyl."

Könnte die radioaktive Wolke sogar bis nach Deutschland gelangen?

Lengfelder: "Messbare Veränderungen sind zu erwarten, aber ich sehe keine gesundheitliche Gefährdung. Selbst wenn mehrere Reaktoren betroffen sind oder ein scharfer Ostwind weht, wird wohl eher Russland betroffen sein."

Wenn man Atomkraftwerke im Erdbebengebiet baut - muss man sich dann wundern, wenn es irgendwann zur Katastrophe kommt?

Lengfelder: "Die Japaner leben ja auf erdbebenbekanntem Gebiet. Als eine der technologisch führenden Nationen haben sie sich damit beschäftigt: Wie müssen die Gebäude in solch einem Gebiet gebaut werden? Die bauen ja auch Hochhäuser, die Erdbeben widerstehen können. Die Realität zeigt allerdings, dass das nicht gereicht hat. Die Annahmen der Ingenieure haben nicht der Realität entsprochen. Bezogen auf Deutschland heißt das: Unsere Kraftwerke sind nur so lange sicher, wie nichts passiert, was wir nicht erwartet haben."

Sie glauben also, ein Super-GAU wäre auch bei uns möglich?

Lengfelder: "An dem Beispiel sieht man, dass auch eine Nation wie Japan das nicht im Griff hat - und die sind uns technologisch mindestens ebenbürtig. Gerade bei den so wichtigen Notkühlsystemen liegt bei uns einiges im Argen, etliche Kraftwerke laufen im Prinzip auf einem Sicherheitsniveau von 1975. Mich würde es nicht wundern, wenn ein solcher Fall auch bei uns eintreten würde. Die Politik nimmt ihre Verantwortung aber nicht ernst, sondern verlängert sogar die Laufzeiten."

© dpa/Peter Seiffert - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Japan nach der Katastrophe: Fototicker
:Schlamm, Schutt und Trümmer

Provinzen zerstört, Städte verwüstet: Nach offiziellen Angaben soll es bis zu 10.000 Tote geben. Die Folgen des verheerenden Erdbebens und Tsunamis in Japans Nordosten sind noch kaum absehbar.

im Fototicker

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: