Als ihr Bach gestaut werden sollte, reichte es den "tapferen Frauen von Kruščica". Sie setzten sich auf die Brücke in ihrem bosnischen Dorf, hakten sich unter und bewachten den Fluss - 325 Tage lang, rund um die Uhr. Gegen eine ganze Hundertschaft von Polizisten, gegen deren wüste Beschimpfungen, gegen den Investor, gegen die Stadtverwaltung und gegen den Staudamm. Denn mit dem Kraftwerk würde ihr Bach verschwinden und damit das Wasser, das sie für ihre Felder, für ihr Vieh und ihr Leben brauchen. Mehr als zehn Monate dauerte es, dann lenkten Politiker und Baufirma schließlich ein: Der Bach bleibt erst einmal, wie er ist. Die Frauen aus Kruščica sind jetzt in ganz Bosnien bekannt - und mit ihnen die Gefährdung der Flüsse auf dem Balkan.
Das Kleinkraftwerk von Kruščica ist nur eines von etwa 3000 geplanten Wasserkraftwerken auf dem Balkan. Noch fließen in Bulgarien, Kroatien, Serbien oder Albanien die letzten Wildflüsse Europas - weder gedämmt noch begradigt. Wildflüsse wie die Vjosa: Frei windet sie sich 270 Kilometer vom griechischen Pindosgebirge durch Albanien bis zur Adria. Ein Strom, der seinen Verlauf ständig ändert, Sand- und Schotterbänke abträgt und anderswo wieder aufschüttet. Der seine Sedimente bis ins Meer trägt und damit die Strände vor Erosion schützt. Mit Aal und Meeräsche, die den Fluss 200 Kilometer hinauf- und hinabwandern. Mit Vogelarten wie Flussregenpfeifer, Seiden- und Silberreiher, die in seinen Auen und Überschwemmungsgebieten leben. Und mit Menschen, die den Fluss zum Leben brauchen. Doch dieser letzte große Wildfluss Europas ist bedroht: 38 Staudämme sind allein an der Vjosa und ihren Zuflüssen geplant.
Auf dem Balkan sind momentan 188 Kraftwerke im Bau und weitere 2798 sind geplant, zusätzlich zu 1000 bereits bestehenden Anlagen. Etwa die Hälfte der geplanten Dämme und Ableitungskraftwerke befindet sich sogar in Naturschutzgebieten. "Auf dem Balkan schlägt das blaue Herz Europas. Aber diesem Herz droht der Infarkt", sagt Ulrich Eichelmann von der Organisation Riverwatch.
Im Namen des Klimaschutzes soll die Wasserkraft "grünen Strom" liefern für die Balkanstaaten. Doch Wasserkraft zerstört die Fluss-Ökosysteme, deren Wasser zu Seen gestaut wird, während das Flussbett unterhalb der Dämme austrocknet. Das Wasser wird knapper und schlechter. Der Grundwasserspiegel flussabwärts senkt sich, Bäume und Büsche trocknen bei Dürren schneller aus.
Die Staudämme bedrohen Arten wie den Balkanluchs oder den Donaulachs
Die Staudämme bedrohen Arten wie den Balkanluchs. Süßwasserfische wie der Huchen, auch Donaulachs genannt, verlieren ihren letzten bedeutenden Lebensraum. Für eine Vielfalt an Süßwassermuscheln, -schnecken und Insekten schwinden ihre letzten Refugien. Weltweit sind die Süßwasserpopulationen seit den 1970er-Jahren um mehr als 80 Prozent geschrumpft. In Deutschland sind nur 6,6 Prozent der Flüsse in gutem Zustand - auf dem Balkan 80 Prozent. Mit den Staudämmen würde sich das ändern: 30 gefährdete Arten könnten aussterben, 69 endemische - also nur dort beheimatete - Fischarten würden bedroht.
"Wasserkraft ist nicht einmal klimafreundlich - im Gegenteil", sagt Eichelmann. Tatsächlich stoßen große Staudämme und ihre Reservoirs jährlich etwa 1,3 Prozent der globalen Treibhausgase aus, so eine Studie. Natürliche Flüsse und ihre Ökosysteme dagegen sind CO₂-Senken.
Trotz allem ist klar: Länder wie Albanien brauchen mehr Strom. Der soll möglichst erneuerbar sein, schließlich haben sich die Balkanstaaten verpflichtet, bis 2020 den Anteil grüner Energie auf 20 Prozent zu heben. Doch hinter dem Wasserkraftausbau steckt kein Energie-Masterplan. Schaut man genauer hin, werden die Dämme den benötigten Strom nicht liefern. 90 Prozent der geplanten Kraftwerke sind klein, mit einer Leistung von maximal zehn, oft sogar unter einem Megawatt. Heute liefern drei große Dämme Albaniens etwa 98 Prozent des Stroms - und rund 130 kleine Anlagen die restlichen zwei Prozent.
Dieses Verhältnis lässt sich auch auf den übrigen Balkan übertragen - und sogar auf Deutschland: 400 große Dämme liefern etwa 90 Prozent des Wasserkraftstroms, während 7300 kleine Kraftwerke nur zehn Prozent beitragen. Und die absolut produzierte Menge ist verschwindend gering: Zum gesamten Energiemix trägt Wasserkraft nur 0,8 Prozent bei, die kleineren Wasserkraftwerke also nur 0,08 Prozent. "Also praktisch nichts", bilanziert Eichelmann. "Aber dafür wurden unsere Flüsse 7300 Mal zerstört."